Renaissance und Siglo de Oro: Die früheste Weltarchitektur findet sich in Spanien
Die andalusischen Kirchen des 16. und 17. Jahrhunderts waren die wichtigsten Vorbilder der neu gegründeten Bischofskirchen in Amerika.
1492 war ein Jahr von zweifacher welthistorischer Bedeutung: Spanische Truppen eroberten Granada, die letzte arabische Bastion auf der Iberischen Halbinsel, und drei spanische Schiffe unter Führung von Christoph Kolumbus landeten auf einer Insel der heutigen Bahamas. Beide Vorgänge – der Sieg über den Islam im Westen Europas und die Entdeckung Amerikas – markieren den Aufstieg des kurz zuvor vereinigten Königreichs Spanien zur Weltmacht und werden nicht ohne Grund häufig als Wendemarke vom Mittelalter zur Neuzeit angesehen.
Als ein Symbol des Triumphs über den Islam kann die Kathedrale von Granada gelten, die ab 1523 an der Stelle der vormaligen Hauptmoschee errichtet wurde. 1528 übernahm Diego de Siloe den Kathedralbau und formte aus der in Spanien fortwirkenden spätgotischen Bautradition und dem System der italienischen Renaissance eine neuartige Synthese, für die sich in Italien nichts Vergleichbares findet: eine weiträumige Hallenkirche mit riesigen antikisierenden Pfeilern, die gotische Sterngewölbe tragen. Die an einen Triumphbogen erinnernde Fassade wurde 1667 von Alonso Cano entworfen, der als Universalgenie des Siglo de Oro zuvor mit Gemälden und Skulpturen hervorgetreten war.
Der bedeutendste Kirchenbau der Renaissance in Spanien aber ist die Kathedrale von Jaén. Die andalusische Stadt wird noch heute von dem mächtigen Baukörper der Kathedrale überragt, die ab der Mitte des 16. Jahrhunderts von Andrés de Vandelvira als Modellbau der Renaissance erbaut wurde: Die mit korinthischen Halbsäulen besetzten Pfeiler tragen Segelgewölbe mit geometrischen Mustern, die dem rechteckigen Hallenraum der Bischofskirche eine Wirkung von ruhigem Gleichmaß verleihen – und eine Noblesse, mit der sich kaum ein anderer Kirchenbau der europäischen Renaissance messen kann. In der wirtschaftlichen Krisenzeit des frühen 17. Jahrhunderts kam der Kathedralbau jedoch zum Erliegen, ab 1634 wurde er erneut aufgenommen und erhielt in den Jahren 1667–1688 eine zweitürmige Westfront nach Plänen von Eufrasio López de Rojas, nun in den reichen Formen des frühen Barock.
Die großen Kirchenbauten des 16. Jahrhunderts in Andalusien, zu denen auch die Kathedralen von Málaga und Baeza zu zählen sind, wirken auf den ersten Blick wie ein Randphänomen der europäischen Renaissance. Der Süden Spaniens mit der Hafenstadt Sevilla befand sich jedoch im Zentrum des Welthandels und des kulturellen Austauschs mit den spanischen Vizekönigreichen in Mittel- und Südamerika. So lag es nahe, dass die andalusischen Kirchen des 16.–17. Jahrhunderts zu den wichtigsten Vorbildern der neugegründeten Bischofskirchen in Amerika und damit zu den Modellbauten des ersten Architekturstils von globaler Reichweite wurden: der spanischen Renaissance. Die bedeutendste Wirkung übte der Kathedralbau von Jaén aus, der mit seiner markanten Doppelturmfront zum Vorbild der Kathedralen von Mexiko-Stadt und Puebla in Mexiko wurde.
Die politische Macht Spaniens konzentrierte sich in der neugegründeten Hauptstadt Madrid und der nahe gelegenen Klosterresidenz des Escorial. Dieser gigantische Palastbau mit seiner zentralen Kuppelkirche entstand 1563–84 im Auftrag Philipps II. und galt schon in der frühen Neuzeit als achtes Weltwunder. Tatsächlich spiegelt sich in der majestätischen Größe und dem geometrischen Regelmaß, aber auch in der bewussten Schmucklosigkeit des Palastkomplexes die Idee einer universalen Hegemonie wider, die Rationalität und katholischen Glauben zu verknüpfen versuchte.
In der Realität erlitt die spanische Weltherrschaft jedoch bald massive Rückschläge: 1588 scheiterte die Armada vor England, und mit dem Abfall der nördlichen Niederlande gerieten die spanischen Armeen auch in Mitteleuropa in die Defensive. Die wirtschaftlichen und sozialen Krisen, die Spanien bis nach der Mitte des 17. Jahrhunderts erschütterten und die in einem markanten Kontrast zum Aufblühen der Künste im „goldenen Zeitalter“ stehen, wirkten sich stark auf die Baukonjunktur aus und ließen die Neubautätigkeit drastisch zurückgehen.
Die wenigen neuen Kirchenbauten waren nun geprägt vom nüchternen Stil des Escorial, der für Jahrzehnte kanonisch blieb und in einigen Bauten, wie der Klosterkirche Encarnación in Madrid (1611–16), eine gewisse Eleganz entfaltete. So stand der sich nun rasch entfaltenden spanischen Malerei, die Realismus und Spiritualismus verband, eine minimalistische Architektur gegenüber – ein keineswegs unharmonisches Verhältnis beider Künste, die mit dem Begriff des Barock freilich nur schwer zu verknüpfen sind.
Die Wende zum spanischen Barock erfolgte um die Mitte des 17. Jahrhunderts, in einer Zeit militärischer Misserfolge, in der aber auch die späten Meisterwerke des Velázquez, die „Meninas“ und die „Spinnerinnen“, entstanden. Nach den Jahrzehnten des architektonischen Purismus kam eine nahezu ungezügelte Freude am Ornament auf, die zu einem eigentümlichen Dekorationsstil führte, der sich von seinen italienischen Vorbildern rasch zu emanzipieren vermochte. Wegweisend waren wiederum Sakralbauten in Andalusien, wie die Sevillaner Kirche Santa María la Blanca mit ihrem überreichen Stuckdekor (1659). Die neuen Architekturtendenzen wurden beflügelt von dem wirtschaftlichen Wiederaufstieg Spaniens in der Regierungszeit Karls II. (1665–1700). Nun nahmen auch die amerikanischen Vizekönigreiche aktiv an der architektonischen Entwicklung teil und strahlten in das spanische Kernland zurück – mit der Capilla del Rosario in der Dominikanerkirche der mexikanischen Stadt Puebla entstand 1690 das erste sinnenberauschende Gesamtkunstwerk des spanischen Spätbarock.
Der Autor ist Professor für Kunstgeschichte an der Technischen Universität Dresden mit dem Forschungsschwerpunkt Architektur und bildende Kunst in Spanien und Lateinamerika.
Henrik Karge