30 Jahre Mauerfall: Die Freiheit der Erinnerung
Es gibt eine neue Lust zu erzählen und sich auszutauschen – das hat die Festwoche zur Wende 1989 in Berlin gezeigt.
Es war schon Mitternacht über Berlin, das letzte Feuerwerk war gezündet in den ungeteilten Himmel, noch immer lagen sich Menschen in den Armen – und mit ihren ganz persönlichen Geschichten in den Ohren.
Auch Henning, 38, mit Berliner Hipsterbart, erzählte seine: Dass seine Eltern eigentlich in Ostdeutschland groß geworden waren, die Mutter über Berlin in den Westen geflohen war, der Vater später hinterher, gerade noch vor dem Mauerbau. Als Kind zu Besuch bei der zerrissenen Familie war er mit dem Pferdewagen durch Greifswald gefahren, was er als Abenteuer empfand; die Vereinigung feierten die Eltern in der hessischen Provinz mit einem Privatfeuerwerk, was die Umgebung eher abenteuerlich fand.
„Erst jetzt, 30 Jahre nach der Emotion, kann ich diesen Moment richtig erfassen, mir meine eigene Geschichte bewusster machen“, sagt Henning heute. Erst jetzt? Jetzt erst recht!
Der Mann war schon am Vormittag dieses 9. November in der U-Bahn mit dabei, die Tagesspiegel, Berliner Zeitung und BVG zu einer Redaktion auf Rädern gemacht hatten, die am Ende aber etwas ganz anderes wurde: ein rollender Geschichtensalon, in dem die Menschen sich gegenseitig erzählten, was sie bewegt, während sie fröhlich zwischen Ost und West hin- und herpendelten.
Der 9. November – ein Chance für alle
Sie brachten Fotos mit, Erinnerungen und viele auch ihre Kinder. „Mein Junge soll wissen, in welcher Stadt er aufwächst“, sagte Liviana Steiner, die ihren vierjährigen Sohn auf dem Arm trug. Das war das eigentliche Wunder dieses wunderbaren Wendewochenendes, zu dem eine Million Besucherinnen und Besucher nach Berlin strömten: Es gibt eine neue Freiheit des Erzählens und Zuhörens.
Das, was 30 Jahre wie eine Kunst erschien, an der Deutschland sich verkünstelt, geht auf einmal leichter von den Lippen: Erzähl du doch mal! Wovon träumst du? Was können wir gemeinsam schaffen?
„Erinnerung ist nicht Asche, sondern Glut“, hat Marianne Birthler am Brandenburger Tor gesagt. Die frühere Bürgerrechtlerin versucht selbst, die Räume der Erinnerung neu zu vermessen. Sie diskutiert mit jungen Aktivisten von „Fridays for future“ über frühere und heutige Protestkultur und hat gemeinsam mit Architekten auf der Biennale in Venedig frühere und heutige Mauern dekonstruiert.
Genau dies ist eine Chance für alle: Mit einem frischen Blick Grenzen auch des Denkens und eingeübten Erinnerns einzureißen – zunächst vor allem die unsichtbare Mauer des Schweigens, die es nicht nur zwischen Ost und West gab, sondern auch zwischen Ost und Ost.
Erinnerung, an das, was die Menschen teilen
Drei Jahrzehnte später, in der Festwoche (im Auftrag des Landes Berlin kuratiert von der Agentur „Kulturprojekte“) fingen die Menschen auf der Straße, auf den Plätzen wieder an, sich gegenseitig daran zu erinnern, was sie miteinander zu tun haben. Egal, woher sie kommen. Und was sie teilen. Den Traum, frei zu sein. Den Traum, nicht arm zu werden oder verlassen zu wirken. Den Traum, dass einem jemand zuhört und einen sieht.
Die Sichtbarmachung der Menschen mit ihren Brüchen in den Umbrüchen ist in der schnellen deutschen Einheit verloren gegangen. Viele haben sich bei Wahlen mit Protest gemeldet und dann wieder in der Meckerecke verkrochen, die schon zu DDR-Zeiten zum Nischenzufluchtsort geworden war.
Viele haben auch nicht untereinander geredet, wollten nicht an Verwundungen und Verluste nach der Einheit rühren. Dabei ging auch Stolz verloren, eine friedliche Revolution geschafft, eine Mauer eingerissen, eine oft genug nicht leichte persönliche Lebenswende geschafft zu haben.
Viele junge Menschen sind derweil aufgebrochen in die neue weite Welt oder zumindest in die Ballungszentren und haben dabei ihre Heimat östlich rechts liegen lassen. Genau diese aufgeklärte, aufgeschlossene Mitte fehlte dem Osten lange.
Nun wachsen neue Generationen heran, die das Land mit neuen Ideen in neue Hände nehmen können. Die auch neue Fragen stellen, nach den Baseballschlägerjahren in den 90ern in Ostdeutschland, als der rechte Rest versucht hat, Leerräume der Gesellschaft mit Hass auf andere auszufüllen.
Selbst Angela Merkel entdeckt, dass sie eine Ostdeutsche ist
Junge Menschen stellen jetzt – nach Jahrzehnten des Lieber-nicht- Drüber-Redens mit ihren Eltern und Freunden – alte Fragen auf neue Art. Sie wollen wissen, was aus den Landschaften der Erinnerung geworden ist und wie man darin neue Neugier säen kann. Selbst Angela Merkel entdeckt gerade öffentlich, dass sie eine Ostdeutsche ist. Sie hätte mit dem Erzählen und Erklären viel früher anfangen sollen. Aber zu spät ist es nicht.
Die neue Freiheit des Erinnerns ist eine Chance für Deutschland, auch eine gute Gelegenheit für Kunst und Kultur. Lasst die neu entdeckte Einheit sprechen. In ihrer Vielfalt. Und mit unkonventionellen Mitteln, unverbrauchten Worten.
Wie das künstlerisch geht, hat die Theatergruppe „Panzerkreuzer Rotkäppchen“ gezeigt, die zur Eröffnung der Festwoche auf dem Alexanderplatz mit einer eigenwilligen, aber eben auch ganz einzigartigen Performance am historischen Ort die größte Demo in der Geschichte der DDR persiflierte.
In parodistischen Parolenbeiträgen wurde auch die von Künstlern getragene Opposition der DDR ironisiert, ohne sie unernst zu nehmen. Die universellen Forderungen aus dem Damals wurden spielerisch in das Heute der neuen Umbrüche übersetzt, um gemeinsam über ein neues Morgen nachzudenken. Und die Menschen, sie begreifen, ergreifen diese Chance.
Am Fest-Wochenende drängten sie sich auch weiter draußen in der Stasi-Zentrale in Lichtenberg, aus der irgendwann ein Lernort der Demokratie werden soll – auch an der Bösebrücke zwischen Prenzlauer Berg und Wedding, wo in der Nacht des Jubiläums einfach nur vorbeifahrende Autos beklatscht wurden wie damals vor 30 Jahren, als hier der erste Schlagbaum hochging und sich eine neue Welt öffnete.
Lichtprojektionen zum 9. November
Auffallend viele junge Leute blieben auch am späten Sonntagabend noch vor Fassaden stehen, um sich Lichtprojektionen der friedlichen Revolution anzusehen. Viele hatten auf den Touren zur eigenen Geschichte auch ihre Kinder an der Hand. Diese können auf eine neue, unbefangene Art erleben, wie sich Revolution anfühlt und was man daraus lernen kann – mit Wende-Animationsfilmen, mit virtuellen Stadtrundfahrten oder mit kleinen Ausstellungen wie im Prenzlauer Berger „Machmit“-Museum, wo Kinder Bürgerrechtler aus dem Kiez interviewt haben, was sie damals aus ihrem Mut gemacht haben. Hier können die kleinen Besucher auch Kerzen basteln, wie es die meist jungen Revolutionäre damals taten. Eben was Neues, Eigenes draus machen.
In Berlin gibt es viele historische Orte, die man begehen kann, um sich und seine Umgebung zu entdecken, um seine eigene Erinnerung zu befragen und anderen, auch den ganz Nächsten, von sich zu erzählen. An der Bernauer Straße ist die Größe des Streifens erlebbar und in eigenen Schritten messbar, der die Stadt zerteilte und die Menschen das Leben kosten konnte.
Mittendurch sieht man quer zwei Reihen mit Steinen liegen – sie markieren die Fluchttunnel, die Menschen monatelang gegraben haben, um ihre Mutter in den Westen nachzuholen oder eine Freundin wiederzusehen. Die Erinnerung liegt in Berlin an der nächsten Straßenecke. Nicht nur an die DDR.
Die Stadt ist voller Geschichten
„Die Mauer kann Gedanken nicht begrenzen. Die Mauer kann Wünsche nicht stoppen. Die Mauer sind bloß leblose Steine, Material - ein Versuch, die Menschen einzuschränken", schrieb Anastasia Averkova, eine Teilnehmerin beim Tagesspiegel-Schülerwettbewerb. Sie hatte dafür mit ihren Eltern und Großeltern gesprochen und einen von vielen berührenden, weil eben persönlichen Texten geschrieben.
Warum das möglich ist? Weil diese Stadt voller berührender Geschichten ist – und weil die Menschen noch leben, um aus ihrer Sicht berichten zu können. Weil die Täter und Opfer und Mitläufer von damals noch unter uns sind, weil sie hinter einem stehen können an der Supermarktkasse, wie am Sonntag im „Tatort“ aus Berlin mit Meret Becker und Mark Waschke, in dem ein Todesfall in einem Mietshaus eine verschüttete Geschichte aufdeckte, die auf einem DDR-Jugendwerkhof begann.
Weil Geschichte mit so viel Abstand historisch wird, kann sie anders verarbeitet werden – unverstellter und vielleicht gerade deshalb persönlicher, berührender.
Der Mauerfall hat jedes Leben in Ostdeutschland und nahezu jede Straße in Berlin verändert und mit dem Freiheitsmoment 1989 aus der Stadt die einzige deutsche Metropole von Welt gemacht. Es ist jetzt eine gute Zeit und der richtige Ort, sich daran zu erinnern, dass Deutschland mehr in sich entdecken kann und offener zu sich selbst etwas schaffen kann.
Das Volk ist wieder aufeinander neugierig
Am Schluss ihres Textes schrieb Schülerin Anastasia Averkova: „Am 9. November, mitten in der Nacht, standen wir in Berlin, auf den leblosen Steinen, die so bevölkert waren, dass sie zu leben schienen. Ich fühlte die kühle Nachtluft und ihre warme Hand. Es kribbelt, wenn wir das Fremde entdecken. Es ist wohlig, wenn wir das Bekannte wiedersehen. Ich fühlte ein wohliges Kribbeln."
Das Kribbeln von damals, der Wahnsinn der Überraschung über sich selbst, war zu spüren in Berlin 30 Jahre nach dem Mauerfall. Etwa als Punk-Ikone Patti Smith bei ihrem bewegenden Akustik-Konzert in der Gethsemanekirche die einst und heute mutigen Menschen besang: „People have the power.“
Und genau an uns, diesem noch nicht einigen aber immerhin wieder aufeinander neugierigen Volk, liegt es, diesen Moment zu nutzen. Politisch zuzuhören. Persönlich zu erzählen. Gemeinsam uns selbst zu entdecken. Es gibt nichts Spannenderes.
Robert Ide