„Utøya 22. Juli“ im Wettbewerb: Die Ewigkeit von 72 Minuten
Erik Poppe hat Anders Breiviks Terrorakt auf höchst integre Weise verfilmt. Der Wettbewerbsfilm „Utøya 22. Juli“ ist auch Teil des Heilungsprozesses für die Opfer.
Anders Breivik feuert am 22. Juli 2011 72 Minuten lang auf der Insel Utøya Schüsse ab, im Ferienlager der Jugendorganisation der norwegischen Arbeiterpartei. 72 Minuten dauert es, bis Hilfe kommt, bis das Morden aufhört. Es gibt 69 Tote, acht weitere Opfer hat Breivik zuvor bei einem Bombenanschlag in Oslo getötet.
Um kurz nach 17 Uhr fängt es an. Auf der Wiese im Zeltlager machen erste Nachrichten von der Bombe die Runde, wenigstens sind wir hier sicher, sagt einer. Kaja hat Streit mit ihrer kleinen Schwester Emilie, am Waffelstand trifft sie Caroline, Issa, Petter, Magnus und die anderen, die Teenager reden über die schlechte Handyverbindung und ob Al Qaida die Bombe gelegt hat. Kaja ist eine, die sich um andere kümmert, die sich verantwortlich fühlt, die Kamera bleibt bei ihr, die ganze Zeit. Sie will gleich rüber zum Grillplatz, da fallen die ersten Schüsse, sie flüchten in eine Baracke, rennen in den Wald, werfen sich auf die Erde, stolpern weiter, immer wieder Schüsse, Schreie, Schüsse.
Kann man das filmen, darf man das filmen? Die Panik der Jugendlichen, das Nichtwissen, ist es eine Übung, ist es ernst? Der absurde Versuch, zu verstehen, was geschieht, die Todesangst, das Weiterrennen, Verwundete in den Arm nehmen, ins Zeltlager zurückschleichen, die Schwester suchen und nur ihr Handy finden, mit zitternden Händen den Notruf wählen, Mama anrufen, und wieder weiterrennen zum Strand, wo in den Felsspalten Dutzende panische Jugendliche hocken?
Wie oft sehen wir Mord und Todschlag im Kino
Man hatte etwas Angst, an diesem Montag in den Berlinale-Palast zu gehen, es war einem bange vor „Utøya 22. Juli“, man sitzt dann tatsächlich verängstigt im Saal. Kaja und die anderen müssen mucksmäuschenstill sein, kein Zweig darf knacken, und man hält selber die Luft an und will kein Geräusch machen im Kino. Man tut sinnlose Dinge angesichts des Terrors, selbst wenn er nur auf der Leinwand stattfindet.
Kann man das filmen? Der norwegische Regisseur Erik Poppe tut es auf höchst integre Weise, vielleicht hält man es deshalb kaum aus. Weil man sich den Film nicht mit ethisch-ästhetischer Kritik und dem Voyeurismus-Vorwurf vom Leib halten kann. Das Leid der Opfer von Utøya wird nicht spekulativ ausgebeutet, es wird der Vorstellungskraft nur so nahe gebracht, wie es einer Kamera eben möglich ist. Allein die Ewigkeit von 72 Minuten: Sie sind in einem einzigen Take gedreht, nach einem kurzen dokumentarischen Vorspann zum Bombenanschlag. 72 Minuten kein Schauplatzwechsel, keine rhythmisierende, irgendwie sinnfällige Montage – und nur einmal der Täter, eine schemenhafte Gestalt, weit weg.
Wie oft sehen wir Mord und Totschlag im Kino, nach wahren Ereignissen. Die Opferperspektive nehmen die wenigsten Filme ein, es sei denn, es ist eine Heldengeschichte. Die Mehrzahl der Fiktionalisierung von linkem Terror zum Beispiel folgt den Tätern, auch „7 Days in Entebbe“. Auch der von Paul Greengrass geplante Utoya-Film soll den Fokus unter anderem auf Breivik richten. Opfer sind nicht attraktiv als Identifikationsfiguren. Viel zu selten nehmen wir im Kino ihre Sicht ein, wenigstens versuchsweise.
Erik Poppe hat mit überlebenden Jugendlichen zusammengearbeitet, sich ihre Geschichten angehört und fiktive Figuren daraus destilliert. Aus moralischen Gründen, wie er sagt: damit die Überlebenden und Angehörigen der Opfer nicht sich selbst oder ihre Liebsten „nachgespielt“ sehen. Er hat sie zurate gezogen und ihnen den auf der Nachbarinsel realisierten Film gezeigt, bevor er ihn öffentlich präsentiert. Die Darsteller, Laien, wurden psychologisch betreut.
Die Wirklichkeit folgt keiner Spielfilmlogik
Warum überhaupt so ein Film?, wird Poppe gefragt. „Als Teil des Heilungsprozesses“, für die Betroffenen, für Norwegen. Viele hätten ihm berichtet, sie könnten das Erlebte bis heute kaum erzählen. Den Film finden sie hilfreich: Jetzt können sie sagen, schau ihn dir an und wir reden danach. Manche meinen, es ist zu früh. Aber wenn man wartet, bis ihn niemand mehr zu früh findet, kommt der Film zu spät, ergänzt Andrea Berntzen, die großartige, mutige Darstellerin der Kaja. Seine Wahrhaftigkeit verdankt der Film nicht zuletzt ihr. Was sie später einmal tun will, fragt Magnus Kaja, flüsternd, im Felsen versteckt. „Ministerpräsidentin werden“, sagt sie. Und im Chor singen.
Ja, man sieht ein Mädchen sterben. Ja, man sieht Leichen, aber aus der Distanz. So wie man selber wohl nicht genau hinsehen würde. Am Ende sind andere tot, als man anfangs befürchtet. Die Wirklichkeit folgt keiner Spielfilmlogik. „Utøya 22. Juli“ behauptet nicht, zeigen zu können, wie es war. Das kann kein Kino. Ganz zu Beginn, vor den ersten Schüssen, hat Kaja mit der Mutter eine kleine Auseinandersetzung am Handy. „Das wirst du nie verstehen“, sagt sie. „Aber hör mir einfach mal zu.“
20.2., 9.30 Uhr und 18 Uhr (Friedrichstadtpalast); 12.30 Uhr (HdBF)