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Höhepunkt einer Ära. Helene Fischer, laut Jens Balzer eine „mega-eklektische Multimediakünstlerin“.
© Herbert Neubauer/dpa

Popbuch von Jens Balzer: Die Ewige Verheißung

Von der Dominanz der Frauen, und gebrochenen Identitäten: Jens Balzer entwirft in seinem Buch „Pop“ ein Panorama der Gegenwart.

Wie verheißungsvoll es immer noch auf einem Buchcover aussieht, dieses Wörtchen mit den drei Buchstaben: Pop. Im Fall des Buches von Jens Balzer steht es in strahlend weißen Versalien auf einem roten, den Rillen einer Vinylplatte nachempfundenen Hintergrund. Aber folgt auf die Verheißung nicht inzwischen oft die Enttäuschung, da Pop von den Rändern in die Mitte gewandert ist, alles irgendwie zu Pop geworden ist oder als solcher bezeichnet wird (selbst der Brexit!), da es im Pop und bei der Beschäftigung mit ihm durch die Popkritik schon lange nicht mehr um das bessere, richtige Leben geht?

„Ein Panorama der Gegenwart“ verspricht der Untertitel. Das ist wegen der Allgegenwärtigkeit von Pop und der Allverfügbarkeit selbst ältester, entlegenster Popmusikspielarten gleichermaßen konsequent und gewagt: Was soll hier bloß alles untergebracht werden? Doch führt uns Jens Balzer, stellvertretender Kulturressortleiter und Popkritiker der „Berliner Zeitung“, gleich in seiner Einleitung in eine finster-interessante Pop-Gegenwart. Er beginnt mit Helene Fischer, wie diese bei ihrem Auftritt 2014 in der früher O2-, jetzt Mercedes-Benz-Arena heißenden Konzerthalle am Berliner Ostbahnhof auf dem Rücken einer riesigen Gans durch die Lüfte schwebt und Céline Dions „My Heart Will Go On“ singt.

Balzer widmet sich Helene Fischer genauso wie Holly Herndon

Für Balzer ist Fischer eine „mega-eklektische Multimediakünstlerin“, die ideale Repräsentantin unserer „vollständig entgrenzten Pop-Gegenwart“, eine zuerst mit Schlagern bekannt gewordene Sängerin, die sich inzwischen „noch die einander fremdesten Stile gleichmäßig gefügig macht“ und die „den Höhe- und vielleicht auch den Endpunkt unserer laufenden popmusikalischen Ära darstellt.“ Voilá! Dass ja niemand glaubt, hier bestelle wieder ein (alternder) Popkritiker seinen Indie- und Nerd-Schrebergarten, unter weiträumiger Umgehung des Chart-Pops, der Popmusik, mit der man Echos und Grammys gewinnt und Stadien füllt! Oder hier betrachte wieder jemand, wie vor zwei Jahren Diedrich Diederichsen in seinem Großwerk „Über Pop-Musik“, den Pop als etwas fast schon Überkommenes, Abgeschlossenes!

Balzer widmet sich Helene Fischer und Rihanna oder Beyoncé genauso wie einem größeren Publikum kaum bekannten, „hart harfenden“ Musikerinnen wie Joanna Newsom und Julia Holter oder „Digitalfeministinnen“ wie Grimes und Holly Herndon; er analysiert Rammstein, Freiwild, Justin Bieber oder Sting mit viel Boshaftigkeit und wenig Wonne, aber eben genauso Musiker wie Devendra Benhart, Flying Lotus oder James Blake, die dann mit reinem Vergnügen.

Und das macht er nicht allein vom Schreibtisch aus oder vor der heimischen Musikanlage sitzend. Balzer hat viele der für ihn paradigmatisch für den Gegenwartspop stehenden Musiker und Musikerinnen interviewt (auch Helene Fischer). Vor allem jedoch ist er live dabei, in den großen Hallen und den kleinen Clubs, besonders im Berghain, der Berghain-Kantine. Pop und Popmusik, das ist nun einmal nicht nur ein Album mit Musik, ein fertiges Produkt. Dazu gehört, mehr denn je, die jeweilige Show, die Inszenierung, das Schlüpfen in viele Rollen. Beim Live-Auftritt manifestiert sich am anschaulichsten die für den Pop seit jeher so wichtige Körperlichkeit und Erotik.

Der heterosexuelle Pop-Mann hat ausgedient

Eine von Balzers Hauptthesen: Nicht nur der von Männern beherrschte Rock ist ein Auslaufmodell, das zuletzt noch einmal mit Bands wie den Strokes oder Libertines von Band lief, sondern der heterosexuelle Pop-Mann überhaupt hat ausgedient, ist zu einer Figur der Vergangenheit geworden. Dominiert wird der Pop der Gegenwart, so Balzer, von Frauen, von Adele oder Rihanna, von Lana Del Rey oder eben Helene Fischer – und bevölkert wird er zudem von „gebrochenen Ich-Identitäten“, „von Freaks, die sich entschlossen der Identifizierung verweigern“, von Musikern und Musikerinnen, die zwischen den Geschlechtern wandeln, die mal dies, mal jenes sind. Und die überdies ein besonderes, oft inniges, hin und wieder zwiespältiges Verhältnis zu den von ihnen verwandten digitalen Klang- und Stimmerzeugern pflegen. Heißt einerseits: „Wenn es um Liebe geht, geht es immer auch um die Unfähigkeit, sich in erotischer Form zu entscheiden, und um die Erotik dieser Unfähigkeit“, wie Balzer es mit dem US-R’n’B-Duo 18 + herleitet. Und andererseits, so bei den Acts des Londoner Labels PC Music:  „Der Körper ist hier nur noch eine Krümmung im Virtuellen, eine fragile temporäre Erscheinung in einem nicht aufzuhaltenden semiotischen Fluss“.

So geht es in diesem Buch munter diskursiv durch die Trends und popmusikalischen Strömungen dieser und der vergangenen Dekade. Mitunter sind diese sehr speziell oder waren von kurzer Dauer, Spielarten wie Witch House, Weird New Folk, Chillwave oder Vaporwave. Doch versteht es Balzer, diese nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Inszenierungen und der Musik gerade der Vertreterinnen des Groß- und Stadionpops (Adele, Lady Gaga) zu spiegeln – und darüber hinaus verblüffendste Verknüpfungen herzustellen. Zum Beispiel die zwischen Lana del Rey und dem Grafen der deutschen Gothic-Rock-Band Unheilig, die sich beide lustvoll und gekonnt in der Kunst des Verschwindens und endlosen Abschiednehmens üben.

Balzer ist Romantiker - und glaubt noch an Pop-Dissidenz

Manchmal hat man den Eindruck, dass Balzer gerade seine Favoriten größer und bedeutsamer macht, als sie es tatsächlich sind, dass hier der Wunsch der Vater (oder besser die Mutter?) vieler schöner Gedanken über Minimalismus-, Unterwerfungs- oder Beschleunigungsästhetiken ist. Denn die „hermaphroditischen Backenhörnchen auf Metamphetamin“, jene Acts, die das bislang eher unbekannte Label PC Music verlegt, werden nie so viele Menschen hören oder zu deren Konzerten strömen wie zu Rammstein oder Sting. Zumal das Buch zwar mit dem Ende der männlichen Rockherrschaft beginnt, aber auch mit der Innerlichkeits- und Protestmusik supererfolgreicher „postheroischer“ Hip-Hop-Männer wie Drake, Kanye West oder Kendrick Lamar endet. Als Klammer für ein Buch über eine zunehmend feminisierte Popgegenwart wirkt das ein wenig schief.

Jens Balzer
Jens Balzer
© Berliner Zeitung

Als richtiggehender Romantiker erweist Balzer sich beim Outro seines Buches. Darin stellt er die von ihm konsequent nur „Mehrzweckhalle“ genannte Mercedes-Benz-Arena am Berliner Ostbahnhof dem Berghain gegenüber: hier der Ort des totalen Ausverkaufs, der digitalen Kontrolle, der Inbegriff des popistischen Kapitalismus. Dort der werbefreie, kreativitätsfördernde „Schutzraum für Neuerfindungen jeglicher Art“, der das allerdings durch rigide Reglementierungen ist, eine strenge Tür und ein absolutes Fotoverbot. Als würde das Berghain auf kapitalistische Verwertungszusammenhänge komplett pfeifen, was es nicht tut, als wär es den Betreibern egal, ob sich da jetzt nur zehn oder tausend Leute bei den Konzerten einfinden. Ja, als hätte der Pop nicht schon lange seine Unschuld verloren, als gäbe es zum Beispiel nicht schon seit Jahrzehnten das Sponsoring im Pop.

Doch es ist nicht zuletzt dieses Beharren auf einem Rest von Pop-Dissidenz und -Widerständigkeit, der dieses Buch so sympathisch macht, darauf, dass es guten und schlechten Pop gibt. Und doch erkennt Jens Balzer in beiden Arten gesellschaftliche Veränderungen und kulturelle Umbrüche, mithin das Wesen unserer Zeit. Von Enttäuschung also keine Spur, zum größten Teil nur Erfüllung. Mit Pop lässt sich, das demonstriert Balzer quasi als Anti-Diederichsen, weiterhin arbeiten.

Jens Balzer: Pop. Ein Panorama der Gegenwart. Rowohlt Berlin, Berlin 2016. 256 S., 20 €. Buchpremiere Do, 21.7., 20 Uhr, Kantine am Berghain, Wriezener Bahnhof

Gerrit Bartels

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