"Art Angels" von Grimes: Ein Alien will ins Hitradio
Grimes ist mit düsterer Indie-Elektronik bekannt geworden. Auf ihrem neuen Album „Art Angels“ orientiert sich die Kanadierin in Richtung Mainstream-Pop.
Ein Nachtwesen zieht von Kanada nach Kalifornien und beginnt zu glühen. Plötzlich ist da diese Wärme, und überall sind neue Farben und Klänge. Das alles muss die geheimnisvolle Kreatur tief bewegt haben, die sich Grimes nennt und eigentlich Claire Boucher heißt.
Denn ihr viertes, absolut erstaunliches Album „Art Angels“ zeigt sie derart verwandelt, dass man sich beim ersten Hören fragt, ob das wirklich dieselbe Musikerin ist, die vor drei Jahren mit dem düster-zerfurchten Elektronik-Album „Visions“ zu einer Indie-Sensation aufgestiegen war, anschließend von Jay-Zs Management unter Vertrag genommen und plötzlich zum Liebling der Modewelt wurde.
Aus der Dunkelheit ins Licht, aus der Nische in den Mainstream. So lässt sich Grimes’ auf „Art Angels“ vollzogene Entwicklung zusammenfassen. Das wird sicherlich viele „Visions“-Fans irritieren. Dabei gibt es auch für sie eine Reihe von Anküpfungspunkten wie die hohe, immer wieder ins Quietschige gepitchte Stimme der 27-Jährigen und vor allem ihr extrem gutes Gespür für eingängige Melodien, das sie nun erstmals richtig auskostet und auf die Spitze treibt. Dafür sind ihr alle Mittel recht, zum Beispiel auch Gitarren, die anstelle der auf „Visions“ dominierenden Synthesizern nun oft die Führung in ihren Songs übernehmen dürfen.
Der Uptempo-Song „Flesh Without Blood“ etwa wird von einer einfach geradeaus geschrammelten E-Gitarre angetrieben. Dazu noch ein achtelnder Bass und ein machtvoller Schlagzeugbeat – so nah am Top 40-Radio war Grimes noch nie. Und das ist fabelhaft. Ihre kalifornischen Kolleginnen von Haim, Großmeisterinnen des packend-poppigen Rocksongs, könnten glatt ein bisschen neidisch rüberschielen auf den Los Angeles-Neuzugang. Das gilt auch für das sich anschließende Stück „Belly Of The Beat“, das Akustikgitarren mit Plattenknistern und einem dynamischen Beat verbindet. „And you’ll never get sad and you’ll never get sick/And you’ll never get weak/We’re deep/In the belly of the beat, yeah!“, singt Grimes in einer ganz normalen, mittleren Tonlage. Bei dieser Ode an die heilende Kraft der Musik versteckt sie sich mal nicht hinter ihrer irgendwo zwischen Alien und Fee angesiedelten Kunstfigur, die sie ursprünglich zur Bekämpfung von Bühnennervosität erfunden hatte.
Komponieren, produzieren - Grimes macht alles im Alleingang
Claire Boucher tritt immer allein auf. Sie macht seit ihren Anfangstagen in der DIY-Szene von Montreal auch sonst alles selbst. Ihre ersten beiden Alben stellte sie 2010 ins Netz, man konnte sie außerdem als Kassette bekommen. Musik und Texte schreibt Grimes in nächtlichen Heimstudio-Sessions, wobei auch Amphetamine im Spiel sein sollen. Produzenten lässt sie nicht an ihre Werke, was auch damit zu tun hat, dass sie schlechte Erfahrungen mit arroganten Technikern gemacht hat, die Frauen nicht ernst nehmen.
Das Tolle an „Art Angels“ ist, dass es bei aller Pop-Süße, die Grimes’ Liebe für Britney Spears, Mariah Carey oder Christina Aguilera spiegelt, eben nicht wie eines dieser überzüchteten Hochglanzprodukte klingt, die sich die Kolleginnen derzeit gern von Super-Producern zurechtschneidern lassen. Die 14 Tracks haben Charme und ein bisschen Dreck unter den Fingernägeln, was ihnen eine Unverwechselbarkeit verleiht. Und es ist ja auch nicht alles so hitradioverdächtig wie das ohrwurmige „Realiti“ auf der Platte. So trägt der Song „Scream“ seinen Titel durchaus zu Recht. Militärisch anmutende Industrial- Beats treffen auf eine sägende E-Gitarre, Grimes’ Gekreische sowie den Mandarin-Sprechgesang der taiwanesischen Rapperin Aristophanes.
Überraschungen sind die einzige Konstante
Auch „Venus Fly“, die zweite Kollaboration auf der Platte, fällt mit ihrem an M.I.A. erinnernden Aggro-Beat in die etwas sperrigere Kategorie. „Why you looking at me now?/ Why you looking at me again?“ bellen Grimes und Gastsängerin Janelle Monáe darin. Gegen Ende bringt eine Violine mit einer keltisch angehauchten Melodie noch eine unverhofft sanfte Wendung in das Stück.
Überraschungen scheinen ohnehin die einzige verlässliche Größe bei Grimes zu sein, die sich weder in Genre- noch in Genderkategorien zwängen lassen will. Wie ein Statement, das diese Haltung noch einmal auf den Punkt bringt, wirkt deshalb der Abschlusssong „Butterfly“. Geschrieben aus der Perspektive eines Schmetterlings flattert er zwischen Großraumdisco-Stampf und verspieltem Pop. Einfangen kann man ihn nicht. Die letzten Zeilen der Platte lauten: „If you’re looking for a dream girl/ I’ll never be your dream girl.“ Grimes will niemandes Traummädchen sein, ein Alien zum Verlieben ist sie aber trotzdem.
„Art Angels“ ist digital bei 4 AD/Beggars erschienen. CD/LP ab 11. Dezember.
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