Pop-Jahr 2017 - Ein Rückblick: Die Erweckung der Langsamkeit
Ed Sheeran und Luis Fonsi sind die Streaming-Könige, ansonsten regiert der Hip-Hop und nimmt das Tempo aus den Songs. Und der Rock? Steckt weiterhin in der Krise. Ein Rückblick auf das Pop-Jahr.
Er war einfach überall. Im Radio, im Fernsehen, in den Charts, in den Arenen, auf Magazin-Covern, auf den Alben anderer Popstars. Und vor allem: im Internet. Ed Sheeran ist der Streaming-König des Jahres. Sein Album „÷“ (gesprochen: Divide) war mit über drei Milliarden Streams das beliebteste Werk beim Marktführer Spotify, aber auch auf kleineren Plattformen wie Deezer. Bei den Singles kam der Brite mit seinem Hit „Shape Of You“ (1,4 Milliarden Stream) ebenfalls auf den ersten Platz. Damit hat er seinen kanadischen Kollegen Drake überholt, dessen Hit „One Dance“ zuvor der meistgestreamte bei Spotify gewesen war.
Dabei ist „Shape Of You“ ein recht unspektakulärer Midtempo-Song, der auf die ständige Wiederholung seiner Grundidee setzt: ein Latin-Rhythmus kombiniert mit einer hübschen Marimbaphon- Melodie, dazu ein bisschen Percussion und Sheerans sanfter, aber dennoch eindringlicher Gesang. Den Refrain bemerkt man bloß an einer einsetzenden Bassdrum und dem „Oh-I-oh-I“-Background- Chor, der aus vervielfältigten Sheeran-Stimmen besteht. Das Stück schleicht sich gleichsam in den Kopf und setzt sich dort fest, wobei gerade seine Unaufdringlichkeit seine Stärke ist. Denn dadurch passt er in eine Vielzahl von Playlisten – das auf Streaming-Portalen deutlich wichtigere Format als das herkömmliche Album.
Mit "Perfect" führt Sheeran derzeit die deutschen Charts an
Ob zum Joggen, Entspannen, Autofahren, für alles gibt es Songsammlungen. Einige sind kuratiert, andere automatisiert beziehungsweise von Nutzerinnen und Nutzern selbst erstellt. Wobei eigenwillige Experimentalstücke höchstens in wenigen solcher Listen landen können, Gefälliges wie der Sheeran-Sound ist dagegen vielfach einsetzbar. Derzeit findet sich „Shape Of You“ in über fünf Millionen solcher Listen, darunter die besonders populären „Global Top 50“ und „Songs to Sing in a Shower“.
Der 26-jährige Musiker hat mit der Liebesballade „Perfect“, die derzeit die deutschen Single-Charts anführt, sogar noch einen weiteren derart anpassungsfähigen Megahit auf seinem dritten Album. „Baby, I’m dancing in the dark with you between my arms/ Barefoot on the grass, listening to our favorite song“, singt er darin. Mustergültig universell, hart an der Grenze zur Banalität, aber ausdrucksstark und glaubwürdig gesungen – so geht erfolgreicher Pop. Meister Sheeran hat das aktuelle Update. Bei der Musikpresse kann er damit zwar nicht landen – in keiner relevante Jahres-Bestenliste taucht „÷“ auf – dafür füllt er problemlos drei Mal hintereinander das Wembley Stadion. Sheeran steht dabei wie immer allein mit seiner Akustikgitarre und einer Loopstation auf der Bühne. Bei all seinem Erfolg wirkt der rothaarige Musiker aus Suffolk weiterhin wie der nette Kerl aus dem Pub von nebenan. Einer von uns, der sich hochgekämpft hat – das klassische Identifikationsmodell.
"Despacito" war der Youtube-Hit des Jahres
Einen Titel, den Ed Sheeran nicht abräumen konnte, ist der des YouTube-Champions. Den errang der puerto-ricanische Sänger Luis Fonsi zusammen mit Daddy Yankee und dem Latin-Pop-Song „Despacito“ (dt.: schön langsam). Unglaubliche 4,5 Milliarden Mal wurde ihr Clip bisher angeklickt und ist damit das erfolgreichste Musikvideo auf der Plattform überhaupt. Den bisherigen Spitzenreiter „Gangnam Style“ hat das Duo damit um rund eine Milliarde Klicks überboten. Mit einem Justin Bieber-Remix konnte der 39-jährige Fonsi den Hit noch sogar weiter ausschlachten. Rechnet man beide Versionen zusammen, ist „Despacito“ übrigens auch auf Spotify der erfolgreichste Song.
Der Sommerhit zeigt, wie sehr die Bedeutung einzelner Songs zugenommen hat, er spiegelt zudem einige aktuelle Poptrends. So steht er natürlich in Moll, lässt es mit rund 90 Beats per Minute (BPM) eher gemütlich angehen, integriert Elemente des momentan angesagten Reggaeton und bemüht sich vor allem in der ersten halben Minute sehr darum, die Spannung hochzuhalten. Den Anfang so attraktiv wie möglich zu gestalten, ist eine Songwriting-Tendenz, die laut Netz-Magazin „Pitchfork“ zunimmt. Das sei vor allem darauf zurückzuführen, so Marc Hogan in seinem Artikel „Uncovering How Streaming Is Changing the Sound of Pop“, dass Streams erst honoriert werden, wenn sie länger als 30 Sekunden laufen. Also platzieren die Songwriter in diesem Zeitraum lauter kleine Weiterhör-Impulse, um die Hörerinnen und Hörer bei der Stange zu halten. Hogan führt aus, wie sich die Hit-Schmieden an den Streaming-Statistiken orientieren und deshalb etwa die Refrains immer weiter nach vorne ziehen oder Effekte wie der „Pop-Drop“ entstehen: zerhäckselte Vocalsamples zu Dröhnsynthies, die an die Ausrast-Momente von Rave-Songs erinnern.
Rockmusik stagniert und bringt keine neuen Stars hervor
Könnten Programme das Songschreiben irgendwann komplett übernehmen? Individuell ausgerichtet an den Daten der jeweiligen Nutzerprofile? Undenkbar erscheint es nicht. Für die Streamingdienste wäre es jedenfalls billiger, weil keine Lizenzgebühren anfallen. Spotify sucht jetzt schon abseits der großen Labels nach Material für seine Playlisten. So kamen über einen Deal mit der schwedischen Firma Epidemic Sound etwa zahlreiche Titel völlig unbekannter Komponisten in diverse Ambient- und Piano-Playlisten des Portals und wurden millionenfach gestreamt.
Und wo bleibt da das Echte, das Authentische? Ja, was macht eigentlich der Rock? Es geht ihm schlecht. Er kommt einfach nicht aus seiner seit Jahren andauernden Krise heraus, die sich auch in einem dramatischen Einbruch der E-Gitarren-Verkäufe niederschlägt. Das jahrzentelang dominierende Genre hat schon lange keine neuen Superstars mehr hervorgebracht, es stagniert vor sich hin. Die Alten machen stoisch weiter: Neil Young, Bob Dylan, Robert Plant, U2, die Foo Fighters – sie alle haben in diesem Jahr neue Alben herausgebracht, doch über Achtungserfolge kam keiner von ihnen heraus. Zwar gab es auch ein paar Lichtblicke von jüngeren Gruppen wie War On Drugs oder Grizzly Bear und auch an den Kraut- und Postrockrändern tut sich einiges. Doch ist Rock eindeutig nicht mehr der Sound zur Zeit. An seine Stelle ist der Hip-Hop getreten, der beim jungen Publikum alles beherrscht und zudem auf andere Genres ausstrahlt. So sind etwa die Soundsignaturen des Trap – vor allem die Hochgeschwindigkeits-Hi-Hats – inzwischen in jeder zweiten Pop-Produktion zu finden.
Auch die allgemeine Tendenz zu langsameren Liedern wird auf die Hip-Hop-Dominanz zurückgeführt, wie Elias Leight in seinem „Rolling Stone“-Artikel „How Did Pop Music Get So Slow?“ zeigt. So sei der durchschnittliche BPM-Wert in den letzten fünf Jahren um 23 gefallen, womit 90,5 BPM nun das Standardtempo markiere. Dazu lasse es sich einfach besser rappen als zu schnelleren Rhythmen. Zumal wenn man sich mit codeinhaltigem Hustensaft sediert wie diverse US-Rapper.
Die Streamingraten für Hip-Hop sind im letzten Jahr bei Spotify um 70 Prozent gestiegen. Unter den weltweit fünf meistgestreamten Künstler sind zwei Rapper, in den deutschen Top Ten finden sich sechs. Künstlerisch herausragend war ein weiteres Mal Kendrick Lamar, der mit „Damn.“ einen ungemein dichten und schlüssigen Nachfolger seines Meisterwerks „To Pimp A Butterfly“ (2015) herausbrachte und mit acht Nominierungen als Favorit ins Grammy-Rennen Ende Januar geht.
Auffallend wenige Frauen standen in diesem Pop-Jahr im Focus. Diven wie Beyoncé, ihre Schwester Solange und Rihanna hielten sich zurück. Vielleicht wollten sie Beyoncés Mann Jay-Z nicht die Show mit seinem – in der Tat starken – Album „4:44“ stehlen. So war die Bühne frei für Taylor Swift, die auch politisch von sich reden machte, als sie sich in die Metoo-Debatte einbrachte und sich gegen Vereinnahmungen der extremen Rechten zur Wehr setzte. Ihre Musik klingt allerdings weit weniger aufsehenerregend. Das im November veröffentlichte Album „Reputation“ (natürlich mit Ed Sheeran-Gastauftritt) versammelt solide Mainstream-Pop-Songs, die in den besten Momenten so klingen, als stammten sie von Lorde. Dann kann man aber auch gleich Lorde hören: „Melodrama“, das zweite Werk der 21-jährigen Neuseeländerin, ist eine der besten Pop-Platten des Jahres. Weil sie nicht auf Überwältigung, sondern auf einen intimen, eigenwilligen Sound setzt. Auf andere Weise ist das auch Kelela mit ihrem Debüt geglückt.
Swift greift das nicht an. Sie stellte mit ihrem sechsten Album in der ersten Woche einen Verkaufsrekord für 2017 auf: Allein in den USA setzte sie 1,2 Millionen Exemplare ab. Ihr Trick: Bei Streaming- Diensten gab es „Reputation“ erst später.
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