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Familiengeschichte. Historiker Julius H. Schoeps schaut auch auf die Rolle seines jüdischen Vaters.
© Manfred Thomas

Historiker Julius H. Schoeps: „Die deutschen Juden glaubten, Hitler sei ein vorübergehender Spuk“

Der Historiker Julius H. Schoeps hat ein Buch über Deutschlands Juden 1933 geschrieben. Im Interview spricht er über den Aufstieg des Nationalsozialismus und zieht Parallelen zur Gegenwart.

Herr Schoeps, Sie fragen in Ihrem Buch einmal mehr nach dem Warum des Holocaust. Mit welchen Antworten?

Mir geht es darum, die Anfänge des Nationalsozialismus aus der jüdischen Perspektive zu beschreiben. Das ist in vielfacher Sicht anders, als wenn man die Vorgänge aus der Täter-Perspektive beschreibt. Ich habe dazu vor allem Tagebücher, Briefwechsel und andere Aufzeichnungen herangezogen. Zudem erzähle ich die Geschichte meines Vaters, des Historikers Hans-Joachim Schoeps, der von 1933 bis 1935 im deutschen Judentum eine gewisse Rolle gespielt hat. Das habe ich versucht zusammenzubringen.

Ihr Vater, Hans-Joachim Schoeps, trat für ein Bleiberecht der deutschen Juden im Hitler-Deutschland ein, scheiterte aber mit seinen Vorschlägen und musste dann selbst 1938 ins schwedische Exil fliehen. Nach dem Krieg wurde er als „Heil-Hitler-Jude“ geschmäht. Zu Recht?

Nein, das ist eine Verdrehung der Sachverhalte. Ein Nazi war mein Vater keinesfalls. Er verstand sich als Konservativer, Preuße und Jude. Das war eine Selbstdefinition, mit der man im Nach-Hitler-Deutschland, im Westen wie im Osten, nur wenig anfangen konnte.

Wie bewerten Sie die Rolle Ihres Vaters in den Jahren 1933 bis 1935?

Ich habe seine Veröffentlichungen aus der Zeit alle noch einmal durchgearbeitet. Was ich fand, waren zwar missverständliche Formulierungen, aber auch eine versteckte Widerstandssprache, die so und auch anders ausgelegt werden kann. In der Studentenbewegung der sechziger Jahre sind einzelne Sätze von ihm aus dem Zusammenhang gerissen worden, es wurde ihm ein Paktieren mit den Nazis unterstellt, obwohl bereits die nachfolgenden Sätze im gleichen Text etwas ganz anderes aussagen.

Ihr Vater hatte 1933 die Gruppierung „Der deutsche Vortrupp – Gefolgschaft deutscher Juden“ gegründet und in dessen Vortrupp-Blättern geschrieben, dass der Nationalsozialismus Deutschland vor dem Untergang retten werde und eine Trennung von deutschen und undeutschen Juden gefordert. Das klingt nicht nach Widerstand.

Mein Vater bekannte sich zum Deutschtum der deutschen Juden, aber mit Hitler und den Nazis wollte er nichts zu tun haben. Er dachte jedoch, und das wohlgemerkt bis 1935, dass es für das deutsche Judentum möglich sei, sich in irgendeiner Weise mit dem Regime zu arrangieren. Das war ein Fehler. Von 1933 bis 1935 dachten viele deutsche Juden so. Sie verstanden sich als „deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens“ und meinten, das Bekenntnis zu Deutschland würde sie vor dem Schlimmsten schützen. Sie glaubten, Hitler und die Nazis seien ein Spuk, der schnell vorübergehen werde.

In Lebensgefahr. Schautafel zur Tagung des Reichsverbandes Jüdischer Kulturbünde in Berlin 1936.
In Lebensgefahr. Schautafel zur Tagung des Reichsverbandes Jüdischer Kulturbünde in Berlin 1936.
© Bildarchiv Pisarek / akg-images

Was aber ganz anders kam…

Ja, es kam das böse Erwachen. Beispielsweise hatte selbst die Kinderbuchautorin Else Ury, die die Bestseller-Reihe „Nesthäkchen“ geschrieben hat, Hitler anfänglich für einen durchaus akzeptablen Reichskanzler gehalten. Auch sie wurde in Auschwitz ermordet. Vielen Juden wurde erst mit den Nürnberger Gesetzen von 1935 klar, was ihnen wirklich drohte, auch der „Vortrupp“ meines Vaters wurde zwangsaufgelöst. Die Nazis griffen auf alle Schlüsselpositionen, auf das Justizwesen, die Medizin und die Kultur zu. Und natürlich auf die Universitäten. Die deutschen Professoren hatten sich nach 1933 mehr oder weniger selbst gleichgeschaltet. Man trennte sich von den jüdischen Kollegen, indem man sie entließ. Proteste gab es nur wenige. Bestimmte Universitäten taten sich dabei besonders hervor, unter anderem Berlin, Greifswald, Erlangen, Heidelberg.

Die Politik der Ausgrenzung war nicht vom Himmel gefallen.

Das ist unstrittig. Die Ausgrenzung der Juden setzte nicht erst mit der Machtübernahme Ende Januar 1933 ein. In den völkisch gesinnten Zirkeln des Kaiserreichs hatte man sich schon Ende des 19. Jahrhunderts zum Ziel gesetzt, die Staatsbürgerrechte der deutschen Juden wieder einzuschränken oder sie ihnen möglichst ganz zu entziehen. Die Traditionen der Judenfeindschaft potenzierten sich weiter.

Es gab aber auch Menschen, die das Kommende sahen.

Ja, zum Beispiel der Philosoph Theodor Lessing, der im Sommer 1932 die bevorstehende Katastrophe prophezeite. Er sah unauflösliche Widersprüche im deutsch-jüdischen Verhältnis und erahnte ein kommendes Kollektivverbrechen ohnegleichen. Lessings pessimistische Einschätzungen blieben aber eine Außenseiterposition.

Sie sagen, dass das Bild vom damaligen Geschehen, das Sie durch die Perspektive der Opfer erhalten haben, vom herkömmlichen Bild – auch der Historiker – abweicht. Inwiefern?

Es ergibt sich ein viel differenzierteres Bild, als bisher angenommen. Die Arisierung eines Unternehmens als allgemeines Verbrechen zu beschreiben, ist die eine, auch notwendige Sicht. Aber mit den Augen des enteigneten jüdischen Unternehmers erschließt sich das Geschehen noch einmal ganz anders. Wenn beispielsweise Historiker behaupten, dass es sich um eine „freundschaftliche Übernahme“ eines Unternehmens gehandelt habe, ist das eine der typischen Formulierungen, mit denen der Akt der Arisierung vernebelt wurde. Noch immer vermittelt die gängige Historiografie zudem den Eindruck, Hitler und die Nationalsozialisten hätten zunächst die politische Macht in Deutschland erobert und dann die Gesellschaft mit rigiden, repressiven Methoden von oben her verändert. Das trifft natürlich an vielen Stellen zu.

Aber?

Die Nazis fanden eben auch viel Zustimmung, wenn sie „nicht-arische“ Unternehmen enteigneten, jüdische Professoren entließen, jüdische Mädchen und Jungen von öffentlichen Schulen verbannten. Zahlreiche weitere Schritte, die die Nazis gegen politische Gegner wie auch gegen ethno-kulturelle Minderheiten unternahmen, wurden von der Bevölkerung begrüßt. Wo so eine Ausgrenzungsdynamik enden könnte, das war dem Durchschnittsdeutschen offenbar gleichgültig.

War der Judenmord schon zu Anfang des Regimes einkalkuliert?

Das Szenario war schon in den ersten Herrschaftsmonaten angelegt, zumindest war es Diskussionsstoff. Die Suche nach einem schriftlichen Befehl Hitlers zur Endlösung ist überflüssig, denn das Problem lag viel tiefer. Der Hass auf die Juden war im kollektiven Bewusstsein der Deutschen fest verwurzelt. In der Bevölkerung und in manchen Amtsstuben wurde der organisierte Massenmord vielfach vorgedacht. Der Historiker Hans Mommsen hatte das Konzept der Selbstradikalisierung ins Gespräch gebracht. So etwas gab es zum Teil, aber man kann den organisierten Massenmord nicht alleine auf eine solche These zurückführen. Es kamen andere Faktoren hinzu.

Lag in der Radikalisierungsthese nicht auch eine entschuldigende Komponente?

Genau. So eine Erklärung negiert ja, dass Ausgrenzung und Verfolgung bereits über Jahrzehnte angedacht waren.

Sie fragen in Ihrem Buch auch, ob die deutschen Juden angemessen auf die radikale Ausgrenzungspolitik der Nazis in den ersten Jahren reagiert haben.

Ja und Nein. Die einen haben sich zum Zionismus bekannt und sind aus Deutschland weggegangen. Zeitweise gab es eine pragmatische Zusammenarbeit zwischen radikalen Zionisten und Nationalsozialisten – davon ausgehend, dass Deutsche und Juden nicht zusammenpassen würden und ein jüdischer Nationalstaat „Teil der Problemlösung“ sein könne. Eine solche Zusammenarbeit erscheint vielen – aus historischer Perspektive – als hochproblematisch. Möglicherweise hat sie aber auch dazu beigetragen, dass wenigstens ein Teil der deutschen Juden schneller ausreisen konnte und am Leben blieb.

Was lässt sich aus der Geschichte der frühen NS-Jahre lernen?

Geschichte wiederholt sich bekanntlich nicht, aber bestimmte Phänomene können sich natürlich wiederholen. Der Titel meines Buches „Düstere Vorahnungen“ könnte auch auf unsere Gegenwart passen. Der Kampf um die Demokratie ist ein Kampf, der jeden Tag geführt werden muss. Es könnte eine Zeit kommen, in der antidemokratische Parteien eine parlamentarische Mehrheit gewinnen, auch in diesem Land. Was würde es bedeuten, wenn in Brandenburg die AfD 2019 stärkste politische Kraft wird? Was wir derzeit in Ungarn, Polen oder Kroatien sehen, sollte uns sehr nachdenklich stimmen. Rechtsstaatliche Positionen werden revidiert, einst unabhängige Gerichte willkürlich nach Kalkül und Beziehungen besetzt, Medien kontrolliert, manipuliert.

Andreas Nachama bestritt unlängst, dass rechtsradikale Positionen heute in Deutschland wieder salonfähig werden.

Ich denke, da täuscht er sich. 25 Prozent für eine rechtspopulistische Partei sind kein vorübergehendes Phänomen, sondern eine reale Gefahr. In Bundesländern, in denen die AfD eine starke Vertretung im Parlament besitzt, sieht man erste Auswirkungen. Dort werden etwa von AfD-Abgeordneten Fördergelder für zivilgesellschaftliche und interkulturellen Projekte infrage gestellt. Mag sein, dass manche AfD-Wähler nicht sehen, vielleicht nicht sehen wollen, welche Leute dieser Partei teilweise vorsitzen. Man erfreut sich lieber an markigen Sprüchen über Ordnung und Recht.

Mit welchen Bezügen zu 1933?

Das war mit der NSDAP seinerzeit ähnlich. Auch hier waren viele Wähler dafür, dass eine Partei vermeintlich Ordnung schaffen werde – ohne zu sehen, wo das hinführt. Natürlich gab es auch bei den NSDAP-Wählern viele, die nicht rechtsradikal und antisemitisch gesinnt waren. Wir leben zwar in einer anderen Zeit, aber bestimmte Verhaltensweisen sind heute nicht viel anders als damals.

Wir haben eine solide Verfassung …

… aber die kann auch ausgehöhlt werden, wenn man sich beispielsweise einfach nicht an die Normen dieser Verfassung hält. Das war 1933 der Fall. Schließlich wurde Hitler gewählt, und viele Deutsche waren davon überzeugt, es sei möglich, den neuen Reichskanzler einzuhegen, indem man erst einmal ihn und seine Paladine duldend akzeptiert und mitmacht. Eine, wie sich alsbald zeigen sollte, verheerende Selbsttäuschung.

Das Gespräch führte Jan Kixmüller.

Jan Kixmüller

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