Claus Peymann inszeniert Kafkas "Prozess": Die da oben, er da unten
Romanstoffe am Theater? Eigentlich igitt für Claus Peymann. Nun macht der Intendant des Berliner Ensembles mit Kafkas "Prozess" eine Ausnahme von der Regel. Unter eigener Regie, versteht sich.
Eigentlich schienen sich die Berliner Bühnen eher solide als gewagt in die Schlusskurve der Spielzeit zu legen. Da schreckt die „B.Z.“ mit einer Meldung auf: „Tabubruch“!, und zwar – was für eine Ernüchterung! – ausgerechnet am Berliner Ensemble, dessen Intendant Claus Peymann uns seit Jahren mit lustigen Verbalausfällen gegen jenes tabubruchwillige „Bühnentralala“ unterhält, das er jenseits des Schiffbauerdamms überall am Werke sieht. Und bis dato hatte der BE-Chef nicht zu viel versprochen, als er verkündete, dass „alles, was in Berlin angesagt ist“, an seinem Haus definitiv „nicht stattfinden wird“.
Sind diese seligen Zeiten etwa vorbei? Müssen wir das BE künftig völlig neu auf der Berliner Bühnenlandkarte verorten? Entwarnung! Claus Peymann – der Wetterer wider alle Bühnentrends, zu deren ältestem bekanntlich die Dramatisierung epischer Stoffe gehört –, hat sich lediglich Franz Kafkas Romanfragment „Der Prozess“ vorgenommen. Die Premiere hätte schon vor ein paar Wochen stattfinden sollen. Aber Hauptdarsteller Veit Schubert brach sich auf einer öffentlichen Probe das Handgelenk.
Nun rappelt er sich, glücklicherweise genesen, mit entsprechender Verspätung als Bankangestellter Josef K. im blütenweißen Anzug aus seinem seligen Auftakt-Bühnenschlaf empor. Flankiert wird er von einem Dutzend schwarz gekleideter Spießer-Mitläufer, die auf Achim Freyers Bühne stets angriffsbereit an kleinen Tischchen lungern. Kaum steht Herr K. aufrecht, lösen sich zwei mental besonders feiste Herren aus der Menge, unterrichten den braven Bankangestellten aus heiterem Himmel von seiner Verhaftung, zwingen ihn in einen schwarzen Anzug und machen sich über sein Frühstück her.
Zur Erinnerung: Kafkas Romanheld Josef K. erfährt bis zum Schluss nicht, welches Vergehens er sich schuldig gemacht haben soll. Dafür passiert ihm etwas anderes: Ohne unmittelbar ersichtliche äußere Not verstrickt er sich immer tiefer in die Abgründe jenes ominösen Gerichts, das in stickigen Dachkammern tagt, dessen Fachkräfte während der Verhandlung statt Gesetzbüchern Pornohefte zu Rate ziehen und auf dessen labyrinthischen Gängen stets großäugige, leicht schmierige, dafür aber sirenenhaft verführungswütige Frauen lauern. Kurzum: K. beginnt die dubiose Parallelinstitution, die er anfangs für einen schlechten Witz hält, zwanghaft zu verinnerlichen: Das Gericht werde „von der Schuld angezogen“, lautet ein Schlüsselsatz des Romanfragments, der die KafkaExegeten bis heute recht vital auf Trab hält – und Claus Peymann verhältnismäßig wenig interessiert.
Zu ernsthaften Zweifeln am Selbstbild kommt es – von wegen Tabubruch! – am BE also nicht. Stattdessen konzentriert sich Jutta Ferbers’ zweistündige Textfassung auf die altbewährte Klage vom „Übermut der Ämter“, um aus gegebenem Anlass auch mal Shakespeare zu zitieren. Übrig bleibt also ein zunächst wacker-wehrhafter, später zusehends eingeschüchterter Josef K., der sich mit einer selbstherrlichen, undurchschaubaren Bürokratie konfrontiert sieht. Der Ankündigungstext auf der BE-Website verweist dazu auf unsere „Zeit der Beschattung, Ausspähung und Verunsicherung“, im Programmheft findet sich unter anderem ein Szenenbild aus Charlie Chaplins „Moderne Zeiten“. Und so, wie das klingt, sieht es auf der Bühne auch aus. Ist etwa die Szene an der Reihe, in der Josef K. eine miefige Kammer mit devoten Mitangeklagten betritt, geht das Ensemble auf ein Trillerpfeifensignal hin auf die Knie und fegt brav den Boden. Klar, dass Bühnenbildner Achim Freyer auch eine Art Hochsitz vorgesehen hat, von dem aus die „anonyme Macht“ gern mal zu den Ohnmächtigen herunterkommuniziert.
Immerhin: Die drei Ausrufezeichen hinter jeder Geste – bewährtes Stilmittel der Peymann-BE-Ästhetik – reduzieren sich diesmal gelegentlich auf zwei, im günstigsten Fall sogar auf minus eins. Martin Schwab legt als schmieriger Advokat Huld eine unterhaltsam-wirkungssichere Rollstuhlnummer hin, Norbert Stöß kontert die Überdeutlichkeit von K.s spießigem Onkel angemessen flapsig aus und Joachim Nimtz mimt mit maximaler Knallchargenwürde den windigen Gerichtsmaler Titorelli, den er als eigentümliche Mischung aus Gefängnis- und Zirkusdirektor im gestreiften Hemd über zünftiger Oberarmtätowierung spielen muss. Man weiß halt nicht, auch dies ein gut abgehangener Gemeinplatz, ob unsere modernen Zeiten nun als Komödie oder als Tragödie einzuordnen sind. Am Schluss immerhin, mit Jürgen Holtz’ Auftritt als Gefängniskaplan, reißt es einen tatsächlich noch mal aus dem Sitz. „Das Gericht will nichts von dir“, erklärt der Schauspieler Josef K. fast sanft. „Es nimmt dich auf, wenn du kommst, und es entlässt dich, wenn du gehst.“ In der Luzidität, mit der Holtz diese Sätze spricht, blitzt die vermisste Dialektik final doch noch kurz auf.
Wieder am 9. Juli und, nach den Theaterferien, am 7. September.
Christine Wahl
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