Festspiele Bayreuth: Die Bayreuther Festspiele stellen die Gender-Frage
Bayreuth und die Sache mit den Männern und den Frauen: Ein größerer Gegensatz als der zwischen dem aktuellen „Tristan“ und den „Meistersingern“ ist kaum denkbar.
Wer vor der Bayreuther Hitze ins wieder eröffnete Markgräfliche Opernhaus flieht, kommt nicht nur in den Genuss eines angenehm klimatisierten Welterbe-Theaters, sondern zieht unwillkürlich auch anderweitig Vergleiche. Hier das Kleinod von einem barocken Logenhaus mit dem aberwitzig illusionären Bühnenprospekt, das Wagner einst in die fränkische Provinzstadt lockte. Dort die schlichte Bühnen-Architektur auf dem Hügel mit ihrer aberwitzigen Akustik, die sich in diesen Tagen in einen Glutofen verwandelt – im Dienst der Illusionskraft der Töne. Hier eine tatkräftige Frau, Markgräfin Wilhelmine von Brandenburg-Bayreuth, die den Barockbau Mitte des 18. Jahrhunderts errichten ließ, um dann aber selten in ihrer Loge zu sitzen, weil sie lieber selber mitspielte. Und dort Festspielchefin Katharina Wagner, die sich nach der Wiederaufnahme ihres „Tristan“ von 2015 kurz auf die Bühne wagt – und einen Buhsturm erntet.
Er verdankt sich wohl dem Frauen- und Männerbild ihres „Tristan“. Die Traditionalisten mögen es immer noch nicht, dass Isolde nicht sterben darf. König Marke zerrt sie rüde von Tristans Leiche weg: „Tristan“ als Geschichte einer Zwangsehe – letztes Jahr wurde mitten in die Stille nach dem Liebestod gebuht. Was auch ein wenig an Petra Lang lag, die die Spannung des Moments nicht recht zu halten vermochte. Dieses Jahr ist Lang ganz auf der Höhe, verkörpert eine souveräne Isolde, vom tiefen Mezzo bis in die brillanten Spitzentöne hinein, vom frechen Mädchen bis zur drangsalierten, gleichwohl autonomen Frau. Auch Stephen Gould als Tristan entwickelt zunehmend Charakterstärke als in den Wahn abgleitender Deserteur.
Katharina Wagner thematisiert zunehmend Gender-Fragen
Die Festspiele unter Katharina Wagner pushen allmählich die Gender-Frage nach vorne. Im bei der Kritik weitgehend durchgefallenen „Lohengrin“ von Yuval Sharon gleitet Elsa nicht entseelt zu Boden, auch ihre Widersacherin Ortrud überlebt. In der Wiederaufnahme von Uwe Eric Laufenbergs „Parsifal“ wurden unter der Karfreitagszauber-Dusche neben barbusigen Mädchen auch nackte Männer gesichtet. Und laut Bayreuther Gerüchteküche will Festspielchefin Wagner den nächsten „Ring des Nibelungen“ (2020) der Berliner Opernregisseurin Tatjana Gürbaca anvertrauen. Einen "Ring" von einer Frau gab's auf dem Hügel noch nie. Ein Kritiker-Kollege will bei der Eröffnungs-Pressekonferenz zudem die finnische Dirigentin Susanna Mälkki gesehen haben. Eine Frau in Wagners mystischem Abgrund, auch das wäre ein Novum. Die Zeit ist reif.
In der Männerwelt von Bayreuth kommt ansonsten eben jene auf den Prüfstand. Politisch, weil Regisseur Laufenberg dem bayrischen Ministerpräsidenten Markus Söder seinen religionskritischen, unentwegt mit Kreuzen hantierenden „Parsifal“ ans Herz legt und vom Missbrauch religiöser Symbole für politische Zwecke abrät. Psychologisch, weil Katharina Wagners nachtschwarzer, den Chauvinismus anprangernden „Tristan“ einerseits jegliche Sichtbarkeit verweigert, das Festspielorchester unter Christian Thieleman jedoch unentwegt Hellsichtigkeit an den Tag legt. Besser als Thielemann, der mit 164 Bayreuth-Dirigaten am Ende der Saison den Hügel-Allzeitrekord hält, dirigiert zur Zeit niemand Wagner. Seine Kunst der unaufhörlichen Verwandlung, der Piano- und Mezzoforte-Dynamik, der diffundierenden Streicher-Tutti und Cello-Triolen, ohne dass auch nur ein Ton je verwischte, Thielemanns Trick, noch ins Füßescharren des Publikums hinein den ersten Tristan-Akkord zu setzen, als sei die Musik immer schon da gewesen – all das hat mit Virilität oder simplen Identitäten nichts mehr zu tun. Niemand beherrscht die vertrackte Akustik des Festspielhauses so virtuos wie Thielemann. „Tristan“, ein Klangfest.
Der jüdische Regisseur Barrie Kosky stellt Wagner auf den Prüfstand
Barrie Kosky wiederum nähert sich der Wagnerschen Männerdomäne bei den „Meistersingern“ nun im zweiten Jahr mit soziologisch-musikhistorischem Augenmerk. Seine in Wahnfried und dem Gerichtssaal der Nürnberger Prozesse angesiedelte Lesart stellt Wagner selbst auf den Prüfstand, seinen der Partitur immanenten Antisemitismus, die Deutschtümelei. Ständig stecken die Meister die Köpfe zusammen, tragen wortreiche Fehden aus, pochen auf Regeln, auf Tradition. Eine Komödie der Ressentiments, ein Slapstick des Schreckens. Und Hans Sachs alias Richard W. leistet sich Zweifel.
Ein größerer Gegensatz als der zwischen dem aktuellen Bayreuther „Tristan“ und den „Meistersingern“ ist kaum denkbar. Hier undurchdringliche Dunkelheit, dort hellstes Tageslicht. Hier die strittige Sänger-Oper, dort der als derzeit beste Hügel-Inszenierung gefeierte Schauspiel-Abend. Hier die Chimäre einer Liebe, dort die Niederungen allzu menschlicher Nähe. Hier statische Bühnen-Tableaus plus Verwandlungskünstler Thielemann, dort das eher statische Dirigat von Philippe Jordan (mit einem allerdings bewegenden, die eigene Schuld betrauernden Vorspiel zum dritten Aufzug) plus Kosky als Meister der Metamorphose, der die Widersprüchlichkeit der Charaktere entfaltet.
Der Chor ist das Herzstück des "Meistersingers"
Günther Groissböck als Pogner, Daniel Behle als David, Wiebke Lehmkuhl als Magdalene, Johannes Martin Kränzle als Beckmesser, Klaus Florian Vogt als Stolzing, Michael Volle als Sachs, nicht zu vergessen der fabelhafte Chor: Das „Meistersinger“-Ensemble hat seine Spielfreude vom Premierenjahr noch gesteigert und verfügt im zweiten Akt mit nun hochgetürmtem Wahnfried-Mobiliar statt des Kunstrasen Nürnbergs von 2017 über noch mehr Requisiten dafür. Lediglich Emily Magee als neue Eva überzeugt nicht, zu aufgesetzt und hysterisch ihr Spiel, zu sprunghaft ihre Registerwechsel. Was auch daran liegen mag, dass Koskys Personen-Analogie (Sachs und Stolzing als Wagner, Pogner als Liszt, Beckmesser als Hermann Levi) bei Eva/Cosima nicht aufgeht. Das arglose Kind und die resolute Wahnfried-Herrin, sie haben wenig gemeinsam.
Vor allem Kränzle und Sachs verkörpern jedoch bis in jede Muskelfaser, in jede deklamatorische Nuance hinein die Kompliziertheit ihrer Figuren. Zwei Männer in der Krise, der Jude und der Antisemit, das Opfer und der Mit-Täter, der Regel-Fundamentalist und der desertierende Reformer: Man mag sie, man hasst sie. Das Ende der Prügelszene mit dem überdimensional aufgeblasenen Judenkarikatur-Ballon hat nichts von seiner Ungeheuerlichkeit verloren.
Buhgewitter und Jubelrufe für den Regisseur, wieder sehr lange. Kosky legt die Hand ans Ohr und horcht aufmerksam in den Saal.