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Gedenken im Oktober 2015. Vor zehn Jahren starben zwei Teenager in Clichy-sous-Bois auf der Flucht vor der Polizei. Darauf folgten die ersten schweren Unruhen in der Banlieue.
© dpa

Interview mit Kader Attia: „Die Banlieue ist nahe an Saudi-Arabien“

Der französisch-algerische Künstler Kader Attia über den Terror in Paris, das Drama der Vorstädte und die Werte der Republik.

Monsieur Attia, wie haben Sie den 13. November erlebt?

Viele Menschen, die mir nahestehen, haben jemanden verloren. Ein befreundetes Paar hat ein Kind verloren, mein Arzt hat Kinder verloren, eine Bekannte hatte zwei Kugeln im Rücken. Ich kenne die Gegend gut, keine 50 Meter entfernt vom Petit Cambodge, in der Rue Alibert, hatte ich vor 15 Jahren selbst eine Bar.

Sie stammen aus Dugny in Seine-Saint-Denis. Einige der Attentäter lebten dort oder sind dort aufgewachsen. Wie nehmen Sie den Ort Ihrer Kindheit jetzt wahr?

Ich bin in Dugny geboren, aufgewachsen bin ich eine Stadt weiter, in Garges-lès-Gonesse. Meine Jugend verbrachte ich in Sarcelles, einer Banlieue-Stadt, die von Hochhaussiedlungen geprägt ist. Ich bin in einem sehr armen Kontext aufgewachsen, es gab schlechte Lehrer, die Klassenräume waren nicht beheizt. Heute ist es noch schlimmer. Ich war gerade in Paris, bei meinem Bruder, der meinte: Kader, kannst du dich noch an das Einkaufszentrum erinnern? Er zeigte mir, warum er nicht mehr hingeht. Nachts sind da Dealer, die Feuer in Mülltonnen anzünden, um sich zu wärmen, auf dem Parkplatz warten in Autoschlangen Drogenkäufer. Andere grillen Schafshälften auf offener Straße. Die Mädchen, 14, 15 Jahre alt, prostituieren sich zwischen Ratten und Dreck. Das gab es früher nicht.

Der französische Künstler Kader Attia, 1970 in Dugny bei Paris geboren, wuchs in verschiedenen Städten in der Pariser Banlieue und in Algerien auf. Er stellte bereits in der Tate Modern in London und dem MoMA in New York aus und war auf der Documenta 13 vertreten. Bis zum 28.11. ist er in der Berliner Galerie Nagel Draxler (Weydinger Str. 2/4) zu sehen. In seinem Werk beschäftigt sich Attia vor allem mit (Post-)Kolonialismus, Identitätspolitik und kultureller Hegemonie. Attia lebt in Berlin und Algier.
Der französische Künstler Kader Attia, 1970 in Dugny bei Paris geboren, wuchs in verschiedenen Städten in der Pariser Banlieue und in Algerien auf. Er stellte bereits in der Tate Modern in London und dem MoMA in New York aus und war auf der Documenta 13 vertreten. Bis zum 28.11. ist er in der Berliner Galerie Nagel Draxler (Weydinger Str. 2/4) zu sehen. In seinem Werk beschäftigt sich Attia vor allem mit (Post-)Kolonialismus, Identitätspolitik und kultureller Hegemonie. Attia lebt in Berlin und Algier.
© privat

Wie konnte sich das in knapp 30 Jahren so verschlimmern?

In den 80ern wuchs die Armut, die ersten Krisen trafen Frankreich. Muslime, Juden und Katholiken wohnten noch zusammen in der Banlieue, aber dann kam das Heroin. Die Menschen versprachen sich etwas vom Neoliberalismus der Chicago Boys, in der Vorstadt vergrößerte sich jedoch nur die Arm-Reich-Schere. Die 90er waren das Jahrzehnt der Krawalle. Die ökonomische Krise spitzte sich zu, die Rechte kam mit Chirac und Pasqua an die Macht, Repression und Polizeigewalt nahmen zu. Filme wie „La Haine“ und „Raï“ kamen ins Kino, das Thema wurde riesig. In „Raï“ spielt ein Bruder von mir mit; der Film wurde in Garges-lès-Gonesse gedreht. Zwischen Juli und Oktober 1995 gab es in Paris die erste islamistische Anschlagswelle.

Bei dem Anschlag auf den RER-Bahnhof Saint Michel starben acht Menschen.

Wirklich schlimm wurde es nach dem 11. September. Alle waren live dabei, vor dem Fernseher. Ich bezeichne das gerne als „Abschaffung des Raums“: Es fühlte sich an, als seien alle unmittelbar betroffen. Durch Frankreich ging ein ideologischer Riss: Wer es sich leisten konnte, flüchtete schon wegen der Krawalle aus der Banlieue, die Armen blieben, mit dem 11.September kamen Stigmatisierung und Exklusion hinzu. Vier Jahre später begannen die größten Unruhen in Paris, der Rhythmus der brennenden Autos wurde immer schneller, die Polizei immer brutaler. Nur wurde nie den Menschen in der Banlieue die Möglichkeit geboten, ihre ökonomische Situation zu verbessern. Im Gegenteil: Bildungsprojekte wurden vernachlässigt, es wuchs der Frust über den Ausschluss aus der Konsumgesellschaft.

Die Bewohner der Banlieue leben an der Grenze zu einer der reichsten Städten der Welt, viele arbeiten im Zentrum von Paris. Sie selbst sehen von diesem Geld aber oft nicht viel. Welche Folgen hat das?

Ein Beispiel für das Verhältnis zwischen der Pariser Stadtgesellschaft zur Banlieue: Seit der Silvesternacht 2005 entstand eine Art Ritual der französischen Medien. Jedes Jahr heißt es am 1. Januar auf allen Fernsehkanälen: „Die Zahl der verbrannten Autos ist auf 1000-so-und so-viel gestiegen“ – „100 verbrannte Autos weniger als im Vorjahr“... Zwischen Birnen und Käse wird die Bilanz verbrannter Autos einer einzigen Nacht serviert, als sei das etwas Normales.

Die Jugendlichen im Viertel wissen, dass sie keine Zukunft in diesem System haben. Was hält sie davon ab, wegzugehen?

Man muss sich nur die Profile der jungen Dschihadisten anschauen: arbeitslos, aus der Schule geflogen oder abgebrochen. Ihre Bildung holen sie sich im Internet. Und da warten die Verschwörungstheoretiker, Neonazis, Islamisten. Wieder die Abschaffung des Raums: Das Internet macht es leicht, Kontakt in diese Zirkel zu bekommen. Am Ende gibt es dann solche Fälle wie den der Cousine des Drahtziehers der Anschläge.

Die 26-jährige Französin Hasna Aït Boulahcen, die beim Polizeieinsatz in Saint-Denis getötet wurde, nachdem sie mit einer Kalaschnikow auf die Beamten zustürmte.

Noch vor fünf Monaten hat sie halbnackte Badezimmer-Selfies gemacht. (Mittlerweile ist bekannt geworden, dass die Bilder nicht Aït Boulahcen zeigen, sondern eine unbeteiligte Frau, Anm. der Red.) Ihr Bruder sagt, sie hatte noch nie einen Koran in der Hand. Diese jungen Leute sind keine ISKämpfer à la Abu Bakr al Baghdadi, der ein großer Kenner des Islam und Psychopath ist. Das sind Vorstadtkinder, die sich von solchen Häschern benutzen lassen. Religion funktioniert eher auf eine pornografische Art. Sie bedient sich der neuen Kommunikationsmittel. Je einfacher der Zugang, desto mehr Menschen berührt es.

Der algerische Schriftsteller Fewzi Benhabib ist vor 20 Jahren von Algier nach Saint-Denis geflohen. Nach den Attentaten schrieb er nun, Saint-Denis sei in der Hand von Islamisten. In Bab el Oued ginge es heutzutage liberaler und toleranter zu als in Teilen der Pariser Banlieue.

Als ich vor sechs Jahren meine Mutter in Garges-lès-Gonesse besuchte, wollte ich mich ins W-Lan einwählen. Auf der Liste der verfügbaren Netze fand sich „Al Qaida“ und „Jihad-en-force“. Die Banlieue ist näher an Saudi-Arabien als Bab el Oued. Weil sich alles im Internet abspielt und Bab el Oued weniger Computer hat.

Das Soziotop Banlieue schließt Menschen aus, die dann wiederum über das Internet nach Anschluss suchen?

Es macht mich fassungslos, dass nichts dagegen getan wird. Wieso wird es vom Staat so lax gesehen, dass ihm eine komplette Bevölkerungsgruppe verloren geht?

Was könnte der Staat denn tun?

Er könnte denjenigen Geld und Unterstützung geben, die in diesen Universen positiv wirken. Vor Ort. Er könnte in Bildung investieren, damit Jugendliche mit dem umzugehen lernen, was im Internet auf sie einwirkt. Er könnte das tun, was seine Aufgabe ist, und in die enormen urbanen Räume reinvestieren, die jahrzehntelang ignoriert wurden.

Seit den Anschlägen ist viel von „unseren Werten“ die Rede, die es zu verteidigen gilt. Glauben Sie, dass sich die Menschen in Saint-Denis, Sarcelles oder Clichy mit den Parisern aus dem 16. Arrondissement auf einen Wertekatalog einigen könnten?

Sie werden sagen: Ich weiß nicht, wovon du redest. Sie fühlen sich nicht zugehörig. In Frankreich herrscht seit Jahrzehnten eine Art soziale Kolonialisierung. Der Riss zwischen den ärmer werdenden Armen und den reicher werdenden Reichen sorgt dafür, dass die Armen sich dominiert fühlen. Die weißen, wohlhabenden Männer, die in Frankreich in Machtpositionen sind, sind meist so weit von den Problemgegenden entfernt – geografisch wie mental –, dass es ihnen egal sein kann, wenn sich dort junge Menschen zu Kämpfern rekrutieren lassen. Ich glaube nicht, dass die Werte der Republik in diesen Vierteln ankommen. Es ist eine soziale Frage: Wenn ein Kind maghrebinischer Eltern in höhere Zirkel aufsteigt und auf der Café-Terrasse sitzt, wird es auch von „Werten der Republik“ reden und stolz sein Glas schwenken, als sei ein teures Glas Wein eine Form des Widerstands.

Das Gespräch führte Fabian Federl

Der Künstler: Der französische Künstler Kader Attia, 1970 in Dugny bei Paris geboren, wuchs in verschiedenen Städten in der Pariser Banlieue und in Algerien auf.
Er stellte bereits in der Tate Modern in London und dem MoMA in New York aus und war auf der Documenta 13 vertreten. Bis zum 28.11. ist er in der Berliner Galerie Nagel Draxler (Weydinger Str. 2/4) zu sehen. In seinem Werk beschäftigt sich Attia vor allem mit (Post-)Kolonialismus, Identitätspolitik und kultureller Hegemonie. Attia lebt in Berlin und Algier.

Korrektur: In einer früheren Version fehlte der Hinweis, dass die "Badezimmer-Selfies" nicht Aït Boulahcen zeigen. Danke an den Kommentator H.M., der darauf hingewiesen hat.

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