Internet: Die alte Angst vorm Neuen
Sascha Lobo und Kathrin Passig fordern in ihrem neuen gemeinsamen Buch einen anderen Diskurs über Chancen und Gefahren des Internet.
Ach, was waren das für schöne Zeiten, als der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf mit seinem Kumpel Holm Friebe zu einer Gründungsveranstaltung des Autorennetzwerks „Zentrale Intelligenz Agentur“ auf ein Schloss im Brandenburgischen fuhr und darüber eine lustige Geschichte schrieb! Darin zerrt Friebe eines Nachts Herrndorfs Ich-Erzähler unter einen Tisch, weil er dort etwas Sensationelles entdeckt hat: eine Dreifachbuchse. „,Da‘, sagte er ehrfürchtig, ,das Internet!‘“.
Solche hübsch ignoranten Späße konnte man sich vor gut zehn Jahren erlauben, da versteckte sich das Netz noch gern unter wackeligen Tischen in irgendwelchen Nebenräumen. Heute ist es überall, alle reden über den digitalen Wandel: die einen furchtsam, skeptisch, gar ablehnend, die anderen voller Freude, optimistisch. Deshalb braucht es Menschen, die sich in der Netzwelt auskennen und die Diskussionen darüber sortieren, die Fronten aufzeigen und bestenfalls aufweichen. So wie die Autorin Kathrin Passig, die unter anderem lange Jahre Geschäftsführerin der Zentralen Intelligenz Agentur war und den Blog „Riesenmaschine.de“ betreibt, und der „Strategieberater“ Sascha Lobo, der unter anderem 2006 mit Holm Friebe ein Buch über die digitale Bohème veröffentlichte.
Ihr neuestes Buch heißt „Internet. Segen oder Fluch“ und handelt von Debatten. „Der dringend notwendige Diskurs um das Internet, seine Bedeutung für unser Leben und seine Folgen für die Welt ist ritualisiert und erstarrt“, glauben Lobo und Passig. (Hier ein Tagesspiegel-Interview mit den Autoren.) Sie wollen Bewegung in den Diskurs um das inzwischen gar nicht mehr so neue Medium bringen und für „Völkerverständigung“ sorgen, wie sie es formulieren. Gleich in ihrer Einleitung bringen sie es auf den Punkt: „Die Diskussion, die heute vom Internet handelt, ist weitgehend unverändert seit Jahrhunderten im Gang, wir sind Marionetten, die ein uraltes Stück aufführen.“
Die Frage ist, ob es wegen so einer Erkenntnis ein ganzes Buch braucht, zumal in praktisch jedem Kapitel auf die Zeiten kurz oder lange vor dem Internet rekurriert wird. Andererseits: Liebesroman- oder Liebessachbuchverfasser interessiert es ja auch nicht weiter, dass zu ihrem Thema seit Jahrtausenden alles schon gesagt sein müsste. Lobo und Passig ist dann auch zunächst daran gelegen zu erklären, wie Debatten zwischen Technikverweigerern und Technikoptimisten überhaupt verlaufen. Was etwa für falsche Metaphern über das Netz im Umlauf sind und wie diese zu irr laufenden Narrativen führen. Oder was Fortschritt bedeutet, dass „der Fortschrittsbegriff ein kompliziertes Ding ist“, was das Neue ist und wie es auf eigenen Füßen stehen kann: „Nicht das Neue bringt die optimistische Erzählung hervor, sondern die Erzählung den Erfolg des Neuen. Wenn sich das Neue einmal etabliert hat, verlieren die überzogenen Behauptungen ihre Kraft: Die Straßenbeleuchtung hat dann doch nicht ganz alleine das Verbrechen auf nächtlichen Straßen abgeschafft.“
Netzaffine Autoren stehen auf der Seite des Netzes
Das erste Drittel des Buches ist eine Mischung aus Binsenweisheiten, Larifari-Metadiskursen über das Alte und das Neue, Witzchen, Begriffserklärungen, mal mehr, mal weniger ernst gemeinten Kapitelanhängen mit Listen von guten und nicht so guten Argumenten sowie Lektüretipps für „Optimisten“ oder „Skeptiker“. Was die Autoren hier verhandeln, bleibt unscharf, wie es in Debatten ja oft zugeht, und ist von einer Art Wächterebene aus dargestellt. Lobo und Passig verfolgen den Diskussionsprozess, und manchmal darf gelacht werden.
Interessant wird es erst, wenn sie sich konkreter in den digitalen Alltag begeben, wenn sie etwa die Mär von der Informationsüberflutung oder der Lebensbeschleunigung drehen, wenden – und eigentlich widerlegen. Sie behandeln das Für und Wider sozialer Medien, der digitalen Demokratie, des Urheberrechtsstreits oder des Filterbubble. Da ist man auf einmal wirklich mitten in der Erörterung „drängender Probleme“ (Klappentext). Plötzlich wird manches Informationsbedürfnis gestillt; man vernimmt, dass es auch in der digitalen Demokratie um Lautstärke und Effektivität geht, dass auch hier „technisch und politisch versierte Menschen mit viel Zeit gezielt die eigene Agenda propagieren“ können. Oder dass in der Urheberrechtsdebatte Begriffe wie „Content-Mafia“ „Raubkopierer“ oder „Diebstahl geistigen Eigentums“ tatsächlich nicht weiterhelfen.
Eine gewisse Tendenziösität verhehlen Passig und Lobo nicht, warum auch? Im Zweifel stehen sie als netzaffine Autoren auf der Seite des Netzes, befürworten sie die vom Internet ausgehende „schöpferische Zerstörung“. Dass sie bald selbst Nostalgiker werden und „schlecht gelaunte Zukunftsprognosen“ abgeben, wollen sie dabei nicht gänzlich ausschließen. Sicher aber wissen sie, was alles fehlt in ihrem Buch. Das steht kurz zusammengefasst im letzten Kapitel, von Themen wie Cybermobbing über die Hackerkultur und die Frage, ob das Internet Arbeitsplätze schafft oder vernichtet, bis hin zu Wikileaks. Ist das nun eine Drohung oder eine Verheißung? Der Stoff für weitere Diskussionen und Bücher geht jedenfalls so schnell nicht aus.
Kathrin Passig und Sascha Lobo: Internet. Segen oder Fluch. Rowohlt Berlin, Berlin 2012. 320 Seiten, 19,99 €.
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