Moskauer Historiker Andrei Subow: „Deutliche Beweise für Putins militärisches Scheitern“
Militärexperten sind erstaunt über die geringe Kampfkraft der russischen Armee. Die Ukraine-Invasion ist ein Fiasko. Putin muss zurücktreten. Ein Gastbeitrag.
Andrei Subow ist ein renommierter Moskauer Historiker und Theologe, ehemaliger Professor des Staatlichen Moskauer Instituts für Internationale Beziehungen (MGIMO). Nachdem er die Annexion der Krim kritisiert hatte, kündigte ihm das MGIMO. Dieser Beitrag ist ursprünglich erschienen auf www.karenina.de, dem Netzportal des Petersburger Dialog.
Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine ähnelt immer mehr dem Krieg zwischen der Sowjetunion und Finnland von 1939 bis 1940. Damals wurde der Vormarsch der Truppen des angreifenden Landes, nachdem sie das unbedeutende Grenzgebiet eingenommen hatten, durch den tapferen Widerstand der Verteidiger rasch zum Stillstand gebracht.
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Dieses Mal hat sich die ursprüngliche Rhetorik des Aggressors noch schneller geändert als vor 82 Jahren. Damals hatte man in Moskau verkündet, die bourgeoise Regierung Finnlands sei mit unbekanntem Ziel geflohen; heute ruft Putin die ukrainischen Soldaten auf, „der Regierung der Faschisten und Drogensüchtigen“ den Gehorsam zu verweigern und die Waffen niederzulegen.
Damals mussten Stalin und Molotow schließlich doch mit jener bourgeoisen Regierung verhandeln, die, wie sich zeigte, durchaus nicht geflohen war; heute hat der Kreml das erklärte Ziel, den regulär gewählten Präsidenten der Ukraine abzusetzen, schon vergessen. Das Außenministerium spricht in Antalya mit dem ukrainischen Außenminister Kuleba und lässt durch seine Pressesprecherin Sacharowa erklären, „die Absetzung der Regierung in Kiew“ sei nicht beabsichtigt.
Die russischen Truppen werden nicht mit Brot und Salz empfangen
Das alles sind deutliche Beweise für Putins militärisches Scheitern. Der Plan, siegreich in Charkiw, Mariupol und Odessa einzumarschieren, begrüßt von jubelnden Ukrainern, ist nicht aufgegangen. Die russischen Truppen werden nicht mit Brot und Salz empfangen, sondern mit Sperrfeuer.
Die Menschen, gestern noch friedliche Bürger, greifen zu den Waffen, um ihr Land zu verteidigen, und die, die dazu nicht in der Lage sind, fliehen in den Westen der Ukraine oder in die Länder der Nato, lassen ihre manchmal von den „Befreiern“ niedergebrannten Häuser zurück und ziehen die Mühsal der Flucht der brüderlichen Umarmung vor. Die Zahl der aus der Ukraine nach Europa geflohenen Menschen geht auf drei Millionen zu und könnte bis auf sieben Millionen steigen – 18 bis 20 Prozent der Bevölkerung.
Aber so wie der finnische Staatspräsident Karl Gustav Emil Mannerheim 1939, hat auch Präsident Wolodymyr Selenskyj in dieser tragischen Stunde sein Land nicht verlassen. Er regiert weiter und spricht täglich mit den Staatsoberhäuptern der Welt, wendet sich an das ukrainische Volk und inspiriert dessen Widerstand. Dieser bescheidene und äußerst zivile Mensch verkörpert den unbeugsamen Mut seines Landes, das ihn in freien Wahlen zu seinem Präsidenten gekürt hat.
Nach Einschätzung von Experten der Nato sind die ukrainischen Truppen zäh und geschickt. Die Stabsoffiziere haben die Kontrolle behalten, die Einkreisung auch nur halbwegs bedeutender Truppeneinheiten der ukrainischen Armee ist bisher nicht gelungen. Ein Blitzkrieg, wie ihn die deutsche Wehrmacht im Sommer 1941 im westlichen Teil der UdSSR erfolgreich führte, gelang im Frühjahr 2022 auf demselben ukrainischen Boden nicht.
Russland treffen beispiellose Sanktionen
Militärexperten konstatieren erstaunt die geringe Kampfkraft der russischen Armee. Genauso war es auch 1939/40 im sowjetisch-finnischen Krieg. Wie sich zeigte, war die „Rote Armee“ bei weitem nicht „stärker als alle zwischen Taiga und Britischem Meer“, wie es in dem alten sowjetischen Kriegslied heißt, nicht einmal stärker als die kleine Armee des „bourgeois-kulakischen“ Finnland.
Und wie im Fall des sowjetisch-finnischen Kriegs wächst die Unterstützung der Ukraine permanent. Aber anders als die UdSSR, muss Russland heute seine Kämpfe ganz allein führen. Zudem wird sein Vorgehen von nahezu der gesamten Weltgemeinschaft verurteilt, wie die Abstimmung der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 2. März 2022 deutlich zeigte.
Russland treffen beispiellose Sanktionen, die sehr schnell zum Zusammenbrechen unseres Wirtschafts- und Finanzsystems führen und das Land in nächster Zukunft in die Zahlungsunfähigkeit treiben werden. Die Oberhäupter der Welt, Präsident Biden, Premierminister Johnson, Kanzler Scholz, klagen Putin persönlich an, diesen Krieg entfesselt zu haben, sie nennen sein Vorgehen in der Ukraine ein „vorsätzliches Verbrechen“.
Die Welt hat sich von Russland abgewandt, Hunderte ausländischer Unternehmen verlassen das Land, Hunderttausende, wenn nicht Millionen unserer Mitbürger verlieren ihre Arbeit. Die britischen Dockarbeiter weigern sich, unsere Tankschiffe zu entladen, sie wollen blutiges Öl nicht berühren, sagen sie.
Die machtnahe Elite hat es längst begriffen
Die westlichen Regierungen sind vorsichtiger als die Unternehmen, aber wie 1939/40 werden sie ihren Bürgern folgen müssen. Überall wetteifern die Regierungsparteien und die Opposition in antirussischer Rhetorik. Die öffentliche Meinung in den meisten Ländern der Welt ist für Russland auf viele Jahre verloren.
Das sind die Folgen von zwei Wochen Krieg. Das russische „tiefe Volk“ hat die Niederlage Russlands noch nicht erfasst. Noch schreibt man das „Z“ („za pobedu“ - für den Sieg) auf die Türen seiner ausländischen Automarken. Aber die Menschen spüren , „dass irgendetwas schiefläuft“.
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Sicherlich wird sich das Bewusstsein sehr bald einstellen, trotz der Anstrengungen der offiziellen Fernsehpropaganda. Übrigens verliert diese Propaganda immer mehr an Überzeugungskraft. Es ist deutlich zu sehen, dass die vor Kurzem noch so wackeren Fernsehmoderatoren von den Ereignissen überrumpelt wurden. Zumal auch sie die Sanktionen persönlich zu spüren bekommen.
Die gebildete Schicht und die machtnahe Elite haben es längst begriffen. Sie begreifen, dass dieser Krieg scheitern wird, viele begreifen auch, dass fast die gesamte lange Regierungszeit Putins gescheitert ist. Von seiner Äußerung über den Zerfall der UdSSR als größte geopolitische Tragödie des 20. Jahrhunderts aus dem Jahre 2004 bis zum Krieg in der Ukraine im März 2022 zieht sich ein roter Faden.
Nun droht dieser Faden jeden Moment zu zerreißen. Die Politik des „Sammelns russischer Erde“ und der Wiedergeburt von „Groß-Russland“ erleidet gerade auf den Feldern der Ukraine ihren totalen Zusammenbruch, ihren Bankrott.
Russland kann nicht von einem politischen Bankrotteur regiert werden
Nachdem Putin sowohl in diesem Moment in der Ukraine als auch in seiner langjährigen Politik eines bolschewistisch-tschekistischen Reenactments ein vollständiges Debakel erlitten hat, muss er zweifellos zurücktreten. Russland kann nicht von einem politischen Bankrotteur regiert werden.
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Das Experiment der Errichtung einer „Machtvertikalen“, der Austausch der Demokratie durch eine Autokratie, endete nicht mit der Blüte des Landes, sondern in einem schrecklichen Fiasko. Der freiwillige Verzicht auf das Amt des Staatsoberhaupts ist die letzte Chance für Wladimir Putin, persönlichen Mut zu beweisen.
So handelte der argentinische Diktator nach dem Scheitern des Falkland-Abenteuers. Dieser Rücktritt würde für unser Land den schweren und langen Weg zur Wiederherstellung eines normalen Lebens freimachen, zur Versöhnung mit der Ukraine und mit der ganzen Welt.
Ein Herauslavieren, und sei es in der Art des Moskauer Vertrags zwischen Finnland und der UdSSR vom März 1940, wird dieses Mal nicht gelingen. Hier hört die Vergleichbarkeit auf. Das internationale Kräfteverhältnis ist heute für Russland erheblich schlechter als für die UdSSR im Jahre 1940.
Militärisch wäre es für den Kreml möglich, den Krieg gegen die Ukraine fortzusetzen. Aber die humanitären, wirtschaftlichen und politischen Schäden für Russland steigen mit jedem Tag exponentiell. Die Alternativen zu einem freiwilligen Rücktritt des Verursachers dieses für das 21. Jahrhundert unerhörten, blutigen Abenteuers sind eine schrecklicher als die andere. Man möchte sich, weiß Gott, nicht vorstellen, dass sie Wirklichkeit werden könnten.
Andrei Subow