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Aufgeben gilt nicht. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj stärkt mit jeder Ansprache den Überlebenswillen und den Zusamme[/GRUNDTEXT][GRUNDTEXT]nhalt seiner Landsleute. Er hat die Macht der Sympathie, während Russlands Präsident auf die Macht des Militärs setzt.
© IMAGO/sepp spiegl

Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen im Interview: „Implosion von Putins Propagandamaschine unvermeidbar"

Wenn Intoleranz als Gegenmittel taugt: Bernhard Pörksen über Umgang mit Putins Propaganda, Selenskyjs Sieg in der Kommunikation – und eigene Trauer

Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Demnächst erscheint sein neues Buch „Digital Fever. Taming the Big Business of Disinformation“ (Palgrave Macmillan).

Herr Pörksen, jeder Krieg wird als Informationskrieg bezeichnet. Führt auch die russische Invasion nur zum kommunikativen Business as usual oder gibt es Besonderheiten?
Ich zögere mit einer Antwort, dies aus zwei Gründen. Zum einen ist der Informationssmog des Krieges, das Gewirr aus Halb- und Viertelwahrheiten, für jeden spürbar, der nur eine halbe Stunde im Netz unterwegs ist. Zum anderen schiene mir eine rasche, nur scheinbar souverän daher kommende Antwort wie zynische Gedankenflucht – ein Wegmoderieren des Schreckens, das sich von der Realität des Leidens löst.

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Was treibt Sie um?
Ich meine: Interpretationen in derart unübersichtlichen, existenziellen Situationen können auch zur Verdrängung von eigener Trauer und Erschütterung dienen. Die Deutung als Besänftigungsritual. – Vielleicht wäre es wichtiger, Geld zu spenden und sich bei einer Plattform anzumelden, um Flüchtende bei sich aufzunehmen, oder?

Die Anstrengung des Verstehens ist nicht sinnlos.
Nein. Aber sie braucht in einer derart dramatischen Situation des Krieges eine Art Einleitung, die zum Beispiel so lauten könnte: Medienwissenschaft ist die endlose Analyse von kommunikativ vermittelten Reaktionen auf Reaktionen, also immer abgeleitetes, indirektes Tun. Eine frühere Studentin von mir ist vor ein paar Tagen spontan zum Berliner Hauptbahnhof gefahren und hat zwei ukrainische Studierende bei sich aufgenommen. Sowas bewundere ich grenzenlos.

Aber nun doch zum Thema. Der russische Präsident Wladimir Putin hat die militärische Macht, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die Macht der Sympathie. Ist das tatsächlich eine Macht oder nur sympathisch?
Tatsächlich gibt es ein Gegeneinander von militärischer und medialer Macht – und zwei Parallelrealitäten, die die Wahrnehmung prägen: die Wirklichkeit des Krieges und die der Kommunikation. In der ersten Wirklichkeit des Krieges ist Putin überlegen, in der zweiten Realität der Kommunikation ist es Selenskyj, der via Telegram, über Twitter und in Form von Videobotschaften an seine Landsleute, die russische Armee oder die europäische und amerikanische Politik ein Konnektiv der vernetzten Vielen anführt, ermöglicht durch die digitalen Medien.

Konnektiv, was meinen Sie damit?
Eine Organisation ohne Organisation, ein Schwarm mit Fokus, der – im Gegensatz zu den strikt hierarchisch strukturierten Troll-Armeen Putins – Individualität und Gemeinschaftserfahrung erlaubt, Selbstausdruck und gerichtete Partizipation. Hier stößt man auf Menschen, die auf den Empfehlungsseiten für Moskauer Restaurants Kriegsberichte posten, um die Informationskontrolle Russlands zu unterlaufen. Hier stößt man auf Wikipedia-Mannschaften, die in Echtzeit die Artikel zur Invasion komplettieren, entdeckt US-Militärexperten, die online Tipps zur Straßenblockade geben, hört von Hackern, die in das russische Staatsfernsehen Kriegsberichte einschleusen oder von Aktivistinnen, die via Twitter-Steckbrief Sanktionen gegen die in London lebende Tochter einer angeblichen Geliebten Lawrow fordern. Der Schmerz dieser Tage besteht darin, dass die mediale Wucht die europäische Wertegemeinschaft zwar wach rütteln, aber das Töten in der Ukraine doch nicht beenden kann.

Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Demnächst erscheint sein neues Buch „Digital Fever. Taming the Big Business of Disinformation“ (Palgrave Macmillan).
Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Demnächst erscheint sein neues Buch „Digital Fever. Taming the Big Business of Disinformation“ (Palgrave Macmillan).
© Peter-Andreas Hassiepen

Putin verhindert Kommunikation, wo immer er kann. Selenskyj verbreitet Kommunikation, wo immer er kann. Handelt der Ukrainer erfolgreicher, schlauer?
Ich würde anders ansetzen. Für mich lässt sich das aktuelle Informations-Geschehen als ein furchtbares Menschen- und Medien-Experiment verstehen, das von der versuchten, maximal aggressiven Informationskontrolle im digitalen Zeitalter handelt. Auf der einen Seite: Putin, der sein Land – man denke an die Verfolgung von Journalisten, die Drosselung von Plattformen, die neuen Anti-Fake-News-Gesetze – brachial in die informationelle Isolation zu führen versucht. Auf der anderen Seite befindet sich jedoch eine Kommunikationsumwelt in Gestalt digital vernetzter Medien, die sich kaum totalitär und handstreichartig umstrukturieren lässt, schon gar nicht für mehr als 144 Millionen Russen.

Putins Kommunikation gehorcht dem Gesetz: Ich sage an, Ihr hört zu und glaubt und folgt mir. Kann dieses Modell im Russland des Jahres 2022 noch funktionieren?
Die Regale in den Geschäften leeren sich, die westlichen Unternehmen verschwinden, Verwundete kehren aus einem Krieg zurück, den man nicht Krieg nennen darf, über WhatsApp erhält man auch in Russland nach wie vor Berichte, dass die Staatsversion der Realität nicht stimmt. Wie wird das russische Volk reagieren, zumal auf Dauer? Die Sozialwissenschaft debattiert zwei Hypothesen. Nummer Eins: Es kommt zu einem Umschwung der Meinungsmehrheiten und einer immer massiveren Kriegsgegnerschaft.

Und Hypothese Nummer Zwei?
Die Mehrheit folgt – das ist die Backlash-Annahme – Putin umso entschiedener und betoniert sich geistig ein. Ich selbst argumentiere als Medienwissenschaftler, der sich mit Formen des Kontrollverlustes unter digital-vernetzten Bedingungen beschäftigt. Meine Hypothese: Die Implosion des Putinschen Propagandagebäudes ist unvermeidbar. Das Szenario, das dann folgen könnte: die immer schärfere Drangsalierung von Protestierenden und ein grausames Endspiel um die Macht im Kreml – mit unabsehbaren geopolitischen Folgen.

Facebook fördert Hass und Hetze, Twitter war Trumps williges Werkzeug, bei Telegram vereinigen sich Corona-Leugner und Putin-Versteher. Aktuell aber werden die sozialen Medien zu gefeierten Plattformen des ukrainischen Heroismus und des widerständigen Russlands. Waren die landläufigen Urteile über diese Medien und ihre Wirkungsmacht vorschnell, ja falsch?
Der Technikhistoriker Melvin Kranzberg hat einmal gesagt, Technologie ist nicht gut, nicht böse und nicht neutral, sie wirkt verschärfend. Aufschlussreich ist doch, dass zahlreiche Plattformen nach der immer entschiedeneren Bekämpfung von Desinformation im Zuge der Pandemie mit dem Ukraine-Krieg endgültig in eine Phase der Neupositionierung eingetreten sind – weg von einer Ideologie der Neutralität, weg von einem bloß bequemen, von Geldgier getriebenen Laissez-faire hin zu immer deutlicheren Eingriffen. Man handelt derzeit schlicht regierungsähnlich, kooperiert mit der Ukraine, stimmt sich ab. Daran wird deutlich, dass soziale Netzwerke durchaus als Werkzeuge der Humanisierung und Demokratisierung einsetzbar sind. Allerdings setzt dies politischen Willen voraus, sozialen Druck, den Fokus der Weltöffentlichkeit, vielleicht auch die Extremsituation einer solchen Kriegskatastrophe, die zum Umdenken zwingt. Kurz und knapp: Man kann medialer Technologie ganz unterschiedliche Zwecke aufprägen. Die Menschen selbst sind für die große Richtung verantwortlich.

 In den Staaten der EU ist die Verbreitung der russischen Staatsmedien wie RT und Sputnik verboten worden. Ist dieser Schritt gerechtfertigter verglichen mit dem Verbot der Deutschen Welle in Russland und Putins Mediengesetz, das jede objektive Berichterstattung kriminalisiert?
Ja, zumal in der aktuellen Ausnahmesituation. Auch gilt: Politische Kontexte sind entscheidend; man kann die Mediengesetzgebung in demokratischen und autokratischen Systemen nicht gleichsetzen. Und warum sollte man die Verbreitung von Putins Kriegspropaganda gerade jetzt ungestört gestatten?

Aber ist so ein Verbot überhaupt zielführend für das, was angestrebt wird: ein Ende von Desinformation und Propaganda?
Das Ende von Desinformation und Propaganda zu erwarten – das wäre überzogen. Es ist mehr ein Statement, ein Akt der Ächtung, der normativen Selbstvergewisserung. Und noch etwas und ganz persönlich gesprochen. Ich war – unabhängig von der aktuellen Situation – lange der Meinung, dass wir eine Übergangsphase der Medienentwicklung erleben, eine digitale Pubertät vernetzter Gesellschaften.

Und nun?
Inzwischen, nach den Pro-Brexit-Kampagnen, dem Wahlsieg Trumps und den frei flottierenden Pandemie-Fake-News bin ich der Auffassung, dass die gewaltigen Desinformationskosten eine schärfere Gegenwehr offener Gesellschaften erfordern. Hier offenbart sich das Toleranzparadox, von dem der urliberale Philosoph Karl Popper sprach: Manchmal braucht es die Intoleranz gegenüber der Intoleranz. Natürlich erfordert dies die maximal skrupulöse Reflexion. Und gewiss ist dies keine schöne oder elegante Lösung, denn offene Gesellschaften leben vom Ideal der Mündigkeit und der Aufklärung. Aber eine liberale Demokratie muss ihren geistigen Lebensraum in Gestalt der Öffentlichkeit auch beschützen. Denn nur dann kann die Aufklärung und das Ringen um das bessere Argument gelingen. 

 

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