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Geklärt. Ernst Ludwig Kirchners „Selbstbildnis mit Mädchen (1914)“ ist keine Raubkunst.
© bpk / Nationalgalerie, SMB / Jör

Abenteuer Provenienzforschung: Detektiv im eigenen Haus

Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz und der Berliner Senat ziehen nach drei Jahren Provenienzforschung Bilanz. Von den 450 Werken der Galerie des 20. Jahrhunderts sind 85 Prozent einwandfrei ohne Verdacht, in Nazi-Deutschland den eigentlichen Besitzern entwendet worden zu sein.

Das Gemälde ist rätselhaft. Im Vordergrund links hat sich der Künstler selber abgebildet, hohe Stirn mit dunklem Haar, langer Hals im blauen Mantelkragen, die Gesichtskonturen scharf geschnitten, in der Hand etwas, das einem Pinsel gleicht. Rechts hinter dem Maler ein nacktes Mädchen, das melancholisch nach unten blickt. Es könnte seine Lebensgefährtin Erna sein. Die Szene bleibt enigmatisch. Nur so viel ist bekannt, dass sich Ernst Ludwig Kirchner hier 1914 mit einem seiner Modelle porträtierte, in seinem Werke gibt es weitere Beispiele dafür.

Und doch hat sich nun etwas geklärt, das weniger mit dem Motiv als mit dem Bild selbst zu tun hat: Das vom West- Berliner Senat einst für die Galerie des 20. Jahrhunderts erworbene Gemälde, das sich seit 1968 in der Nationalgalerie befindet, gehört einwandfrei dem Land. Die Erleichterung, der Stolz über die lückenlose Zurückverfolgung bis zu jedem einzelnen Vorbesitzer ist der Provenienzforscherin Hanna Strzoda anzusehen, die das Bild im Mies van der Rohe-Bau präsentiert. 36 Quellen wurden geprüft, sieben Archive konsultiert.

Von Kirchner ging das Doppelbildnis 1924 über die Galerie Vömel an die Chemnitzer Kunstsammlungen, die es 1934 gegen ein genehmes Bild tauschte, das nicht unter Avantgarde-Verdacht stand. Von dort gelangte es in den Besitz der Berliner Familie Budczies, die es 1949 an die Galerie Gerd Rosen verkaufte, die es im gleichen Jahr erfolgreich der just gegründeten Galerie des 20. Jahrhundert anbot. Der Senat kaufte damals schwungvoll ein – Arp, Kandinsky, Klee, Munch, Nolde, Pechstein –, um die in der Nazi-Zeit geschlagenen Lücken halbwegs zu schließen; zumal nach dem Mauerbau, als klar war, dass die Reste der einstigen Nationalgalerie-Sammlung in Ost-Berlin bleiben würden.

Grünes Licht also für ein Gemälde, das damit anstandslos im öffentlichen Besitz bleiben darf. Das Land Berlin hat da schon andere Erfahrungen gemacht, zumal mit Kirchner. Die mittlerweile acht Jahre zurückliegende Restitution seines im Brücke-Museum präsentierten „Straßenbildes“ bleibt in Erinnerung. Mehr noch sensibilisierte der Fall Gurlitt in der letzten Zeit dafür, dass vielleicht nicht alle Schätze dem Museum gehören, das es hütet, dass nicht alle Sammlungen harmlos sind. Das Land Berlin hat sich schon vor drei Jahren zusammen mit der Stiftung Preußischer Kulturbesitz daran begeben, die 450 bis 1945 entstandenen Werke aus dem Bestand der ehemaligen Galerie des 20. Jahrhunderts systematisch zu erforschen, um nicht noch einmal ein Kirchner-Debakel zu erleben, vor allem um unrechtmäßigen Besitz zurückzugeben.

Das Ergebnis dieser umfangreichen Forschungsarbeit, von zwei Kunsthistorikerinnen geleistet, stellten nun Stiftungspräsident Hermann Parzinger und Kulturstaatssekretär Tim Renner zusammen vor. Es war ihr erster gemeinsamer öffentlicher Auftritt und sollte vor allem eine Erfolgsbekundung sein, der Beginn einer wunderbaren Freundschaft vor Publikum. Die mit einer halben Million Euro (350 000 Euro vom Land, 150 000 Euro von der Stiftung) finanzierte Unternehmung gilt schließlich als eines der umfangreichsten systematischen Provenienzforschungsprojekte in Deutschland zu den Erwerbungen der Nachkriegszeit. Die Bilanz kann sich blicken lassen: 85 Prozent der Werke besitzen eine „saubere“ Provenienz, ähnlich wie Kirchners Doppel-Bildnis. Nur bei drei Bildern – einem Franz Marc und zwei Emil Noldes – besteht der Verdacht, dass sie NS-verfolgungsbedingt ihren Vorbesitzern entzogen sein könnten. Bei 61 Werken ist letzte Gewissheit noch nicht hergestellt.

Auch dafür wurde ein anschauliches Beispiel geliefert. Wilhelm Lehmbrucks Steinguss „Mädchenkopf sich umwendend“ von 1913. Was den Fall noch komplizierter macht, sagt Expertin Christina Thomson: Der Bildhauer variierte dieses Motiv immer wieder, benutzte unterschiedliche Materialien, änderte minimal den Titel ab. Bei dem Berliner „Mädchenkopf“ gibt es die Lücke seit dem Verkauf 1931 durch die Galerie Flechtheim; zwischendurch taucht es in Pariser Privatbesitz auf. Mitte der Fünfziger verkauft die Galerie Springer das Werk ans Land. Von Hildebrand Gurlitt weiß man nun allerdings, dass Kunsthändler seines Kalibers sich in den Dreißigern gerade in Paris einzudecken pflegten, das prominenteste Werk des Schwabinger Kunstfunds, der Matisse, stammt schließlich von dort.

Die Lehmbruck-Skulptur wird nun gemeinsam mit den 63 anderen verdächtigen Kandidaten auf www.lostart.de eingestellt, damit die „crowd intelligence“, wie Tim Renner es nennt, die letzten offenen Fragen klärt. Anspruchsberechtigte mögen sich bitte melden, so der Appell. Die endgültige Veröffentlichung in Buchform mit einer ausführlichen Darstellung der Geschichte der Galerie des 20. Jahrhunderts und der in den Nachkriegsjahren in Berlin und im Rheinland tätigen Kunsthändler lässt allerdings noch auf sich warten; sie wird erst zum Jahresende zu schaffen sein, wie es hieß.

Damit fällt auf die beachtenswerte Leistung der Forscherinnen ein Schatten: Warum war nicht wenigstens jetzt schon eine Liste der fraglichen Bilder zu bekommen, warum rückte die Stiftung erst auf mehrfaches Nachfragen mit den Titeln der drei möglicherweise zu restituierenden Bilder von Marc und Nolde raus? Das beste Bemühen wirkt damit verstolpert. Dabei kann sich der Einsatz sehen lassen. Diverse Forschungsprojekte laufen noch, seit 2011 zum Kunstgewerbemuseum, seit 2013 zu den Zeichnungen der Nationalgalerie, demnächst zum Berggruen-Museum. Weder Parzinger noch Renner haben also etwas zu verheimlichen, im Gegenteil. An ihrem gemeinsamen Auftritt müssen sie allerdings noch feilen.

Nicola Kuhn

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