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Paul Virilio.
© AFP

Nachruf auf Paul Virilio: Der Zeitminister

Er war Autodidakt und bezeichnete sich als „Anarcho-Christen“: Ein Nachruf auf den französischen Philosophen und Geschwindigkeitstheoretikers Paul Virilio.

In seinem Herzen war er kein Futurist, sondern ein Prophet des Untergangs. Paul Virilio untersuchte die Geschwindigkeit als das entscheidende Maß alles Sozialen. Wenn ihn und seine Leser dabei mitunter ein wohliger Schwindel erfasste, sah er doch eine tödliche Allgegenwart heraufziehen, die es zu zähmen gilt. Als technische Triebkraft der Beschleunigung machte er den militärischen Komplex aus, dessen Produkte früher oder später auch ins zivile Leben Eingang finden.

Insofern war er kein bloßer Romantiker, der Entschleunigungspredigten in burnoutüberhitzten Zeiten hält, sondern ein politisch bewegter Diagnostiker. Zuletzt plädierte er dafür, ein „Ministerium der Zeit“ einzurichten, um auf den vielen Wegen zum „rasenden Stillstand“ eines Cybertotalitarismus, etwa dem real time trading an den Börsen, eine bremsende Instanz einzurichten.

Die Wissenschaft, die er mit alledem begründet hatte, nannte er Dromologie. Sie war weder methodisch noch empirisch wasserfest. Doch die wilde, in viele Disziplinen ausgreifende Theorie, die er zusammenbastelte, war anregender als so manche akademische Abhandlung.

Virilio, 1932 in Paris als Sohn eines italienischen Kommunisten und einer Bretonin geboren, hatte zunächst nicht einmal die Voraussetzungen für eine Universitätskarriere. „Der Krieg war meine Universität“, erklärte er in zahlreichen Abwandlungen. Von daher kam sein vielfältig dokumentiertes Interesse für die Bunkeranlagen an der französischen Atlantikküste, die ihn, wie er sagte, die Bedeutung der Architektur lehrten. Praktische Dinge wie die Herstellung von Kirchenfenstern für Le Corbusiers Kapelle Notre Dame du Haut in Ronchamp erlernte er autodidaktisch. Zu seinem philosophischen Lehrmeister erklärte er vor allem den Phänomenologen Maurice Merleau-Ponty, für den die Körperlichkeit von Wahrnehmung eine zentrale Rolle spielt.

Architekt ohne Diplom

Mitte der 60er Jahre erklärte er sich ohne jedes Diplom zum Architekten. Er gehörte zu den Mitbegründern der urbanistischen Gruppe „Architecture Principe“, schuf in Nevers jene bunkerartige Kirche, die in Alain Resnais’ Verfilmung von Marguerite Duras’ „Hiroshima mon amour“ zu sehen ist, und entwarf ein Raumfahrtzentrum in Vélizy-Villacoublay. Seine Forscherlust aber gewann die Oberhand über die Liebe zum Handwerklichen.

1968 wählten ihn rebellierende Studenten als Professur an die private „Ecole Spéciale d’Architecture“, deren Direktor er von 1975 bis zu seiner Emeritierung 1998 wurde. Parallel gründete er 1979 das „Centre Interdisciplinaire de Recherche de la Paix et d’Etudes stratégiques“ und wurde 1990 Studiendirektor des „Collège International de Philosophie“, einer von Jacques Derrida und François Châtelet initiierten offenen Akademie jenseits des Universitätsbetriebs. Da war er längst in den poststrukturalistisch dominierten Kreis jener Pariser Intellektuellen aufgenommen, die hierzulande im Berliner Merve Verlag veröffentlichten, im „Konkursbuch“ oder der Zeitschrift „Tumult“, bevor diese den Rechten in die Hände fiel.

Drei Jahre nach dem Original erschien 1980 bei Merve der Essay „Geschwindigkeit und Politik“, der wesentliche Elemente seines Denkens enthält. Wie er hier Genese und Struktur einer „dromokratischen Gesellschaft“ beschreibt, ist in seiner Pseudosystematik fragwürdig. Aber es ist anregend, mit Virilio darüber nachzudenken, ob nicht die Französische Revolution tatsächlich der Wendepunkt einer Anthropodynamik war, in der bis 1789 durch die Abhängigkeit von Feudalherren der „Zwang zur Immobilität“ herrschte, bevor sie durch einen „Zwang zur Mobilität“ ersetzt wurde, auf der moderne Staatswesen aufbauen.

Er scheute Auto, Fernseher, Mobiltelefon

Ähnliches gilt für viele aus militärstrategischen Überlegungen gewonnene Beobachtungen auf der Kippe von Analyse und Vision: „Die Geschwindigkeit ist die Hoffnung des Abendlandes, sie erhält die Moral der Armeen, und der Transport macht aus dem Krieg eine bequeme Angelegenheit, der Allwegpanzerwagen beseitigt alle Hindernisse.“

Als Privatmann scheute Virilio, der sich nach einem mystischen Erlebnis mit 18 Jahren als „Anarcho-Christ“ verstand und der katholischen Arbeiterpriester-Bewegung nahestand, die Berührung mit der unaufhaltsamen Beschleunigung. Er scheute Auto, Fernseher und Mobiltelefon. Von daher war er gegen jede Erfahrung immun, die der totalitären Verdunklung inmitten der technologischen Überwachung zuwiderlaufen könnte – und hatte keinen Grund zur Hoffnung. Am 10. September ist Virilio, wie erst jetzt bekannt wurde, mit 86 Jahren in Paris gestorben.

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