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Felix Goeser als Mistingue (l.) und Michael Goldberg (Lenglumé).
© imago

Deutsches Theater:"Die Affäre Rue de Lourcine": Der Würger als Edelmann

Demontagehumor und zerbröselnde Identitäten: Karin Henkel inszeniert „Die Affäre Rue de Lourcine“ am Deutschen Theater.

Oscar Lenglumé hat einen satten Filmriss. Als sich der derangierte Rentier (Michael Goldberg) mit dröhnenden Kopfschmerzen aus dem Bett schält, stellt er fest, dass dort noch jemand anders liegt. Und zwar, zu seiner Überraschung, kein One-Night-Stand, sondern ein sittsam behoster Zeitgenosse (Felix Goeser) mit struppiger Frisur, Fatsuit unterm Feinrippunterhemd und einer Optik, die an eine großformatige Proll-Ausgabe des Pumuckl erinnert. Natürlich dauert es eine Weile, bis die Herren unter hohem Slapstick-Aufkommen rekonstruiert haben, dass sie mal gemeinsam zur Schule gegangen sind und am Vorabend bei einem „Ehemaligentreffen“ versackt waren, wo der eine einen „Affenkopf-Regenschirm“ und der andere sein besticktes Taschentuch eingebüßt hat. Was sonst noch so passierte, bleibt weiter im Stockdunkeln.

Es ist schließlich – sage noch einer, Printmedien hätten ein Bedeutungsproblem – eine Zeitungsmeldung, die in die Gedächtnislücke stößt: Eine Kohlenträgerin wurde ermordet. Am Tatort fanden sich ein besticktes Taschentuch und ein Affenkopf-Schirm. Aus den Vertuschungsaktivitäten, die Lenglumé und sein Ko-Alkoholiker Mistingue in Gang setzen, da sie sich für die Mörder halten, bezieht Eugène Labiches Komödie „Die Affäre Rue de Lourcine“ ihren Witz.

Natürlich lauert unter der Humorschicht nichts Geringeres als die Grundfrage der Philosophie: Wer bin ich? Beziehungsweise: Sollte Ich gelegentlich tatsächlich ein Anderer sein? Und falls ja: Wieso musste dieses Sekundär-Ego dieses arme „Kohlenmädchen“ gleich umbringen? Hätte „einvernehmliche Trennung“ nicht gereicht? Und schließlich; nächste Bewusstseinsstufe: Wer sollte jetzt, da der tragische Vorfall eh nicht mehr zu ändern ist, aus Gründen der Mitwisserschaft noch alles beseitigt werden?

Karin Henkel arbeitet erstmals sein sieben Jahren wieder direkt in Berlin

Kurzum: Labiches Einakter zeigt im Bürger das viel zitierte Tier – und damit ein Porträt, das sicher nicht zu Unrecht als zeitlos gilt; dies allerdings eben auch schon seit (mindestens) 159 Jahren. „Die Affäre Rue de Lourcine“ wurde 1857 in Paris uraufgeführt. In Berlin spricht man noch immer von Klaus Michael Grübers epochaler Schaubühnen-Inszenierung aus dem Jahr 1988. Plausibel also, dass Regisseurin Karin Henkel, die zwar regelmäßig beim Theatertreffen in der Hauptstadt gastiert, aber erstmals seit sieben Jahren wieder direkt hier arbeitet, das Geschehen jetzt am Deutschen Theater in einer Art (Un-)Totenhalle ansiedelt.

Den von Henrike Engel gebauten Raum mit zentralem Kreuz sieht man dabei im Laufe des Abends dank Drehbühnentechnik immer wieder aus verschiedenen Perspektiven. Er existiert ebenso vielfach wie die Zombie-Bürger, die sich in ihm herumtreiben. In gleich dreifacher Besetzung – und entsprechend vielfältigen Möglichkeitsformen – tritt etwa der Labiche’sche Butler Justin auf. Der wird hier erst mal prinzipiell zur Dienerin Justine – und alsdann von Wiebke Mollenhauer vorauseilend befehlsempfangend, von Christoph Franken mit einem an selige Stumpfheit grenzenden Stoizismus und von Camill Jammal mit Dauerverwunderung über die Arbeitgeber höchst unterschiedlich angelegt.

Kein Wunder, dass auch ein- und dieselbe Szene gern mal doppelt bis zehnfach geschieht. Henkel treibt – ähnlich wie in ihrem Zürcher Kleist-Gastspiel „Amphitryon und sein Doppelgänger“ beim vorletzten Theatertreffen – das (post)moderne Identitätsdilemma auf die Spitze. Aus dem Wohlstandsbürger, der etwas erschrocken, in letzter Konsequenz aber belustigt sein düsteres, doch immerhin stabiles zweites Ich entdeckt, wird hier der zeitgeistige Paniker, der Kategorien wie „Identität“ nur noch im Dauerzerbröselungsmodus kennt. Lustig ist das freilich – auch hier beweist Henkel Radikalität – nur bedingt. Es fühlt sich eher trostlos und unter humoresken Gesichtspunkten bestenfalls krachledern an. Aus Erbauungswitz wird Demontagehumor. Sprich: Statt feiner Komödienmechanik kehren die Hauptdarsteller Goldberg und Goeser in konzeptionsstringenter Bestform die grobmotorischen Hau- drauf-Akrobatiker hervor. Es gibt eine tragende (und entsprechend ausgedehnte) Rülps- und Furzszene.

Geradezu eine Meisterin der Dekonstruktion: die großartige Anita Vulesica als Lenglumé-Gattin Norine mit monströsem Kunstgebiss. Allein die Szene, in der sie in einer Art Reverenz an den Extremperformer Vegard Vinge gefühlte hundertmal dem Ehemann mit Vollautomaten-Stimme entgegenschleudert: „Oscar, krieg’ ich keinen Kuss?“, lohnt den Besuch. Am Ende steht nur noch das nackte Bühnen-Gerüst, und auch alle anderen Stoff-Lagen sind zur eher unlustigen Kenntlichkeit aufgefächert. Das ist, wie gesagt, nicht uneingeschränkt unterhaltsam. Aber konsequent.

Wieder am 20. und 22. Januar

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