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Überraschungsgast. Bernd Stempel als der seltsame Herr aus Südamerika, dahinter Felix Goeser (Albert) in der Uraufführung am DT.
© dpa/Sophia Kembowski

Uraufführung am Deutschen Theater: Unheimliche Weihnacht

Roland Schimmelpfennig ist der derzeit meistgespielte deutsche Dramatiker. Nun wurde seine „Wintersonnenwende“ am Deutschen Theater uraufgeführt, ein Sittenbild aus der Mitte der deutschen Gesellschaft.

Roland Schimmelpfennig ist Deutschlands im In- und Ausland meistgespielter Stückeschreiber. Der Endvierziger tanzt oft virtuos auf der Schneide zwischen Dialogpingpong und einer postdramatischen Spielart des epischen Theaters, in dem die Figuren noch die sie charakterisierenden Szenenanweisungen miterzählen. Was bei Epigonen zur Marotte wird, erscheint hier als gewitzte Manier. Wobei er mit seinen Figuren noch durchkomponierte Geschichten erzählt.

Diese Figuren sind meist hautnahe Zeitgenossen, Zeitgeister, also Großstädter im allgemeinen zivilisationsneurotischen Wahnsinn. Trotzdem ist Roland Schimmelpfennig: ein Romantiker. Nicht nur Botho Strauß, auch er mischt Reales und Illusion, Ironie und Irrwitz, schwarze Märchenmystik und das Vernunfthelle.

Schimmelpfennigs Stück spielt m 23. Dezember, dem kürzesten Tag des Jahres

Bei „Wintersonnenwende“ klingt nun schon der Titel ein wenig spooky, mit einem Schuss Pathos. Schimmelpfennig hat das Stück ursprünglich fürs Stockholmer Dramaten geschrieben, Schwedens Staatstheater, in dem die Geister von Strindberg und Ingmar Bergman noch halbwegs lebendig sind. Ein Abend- und Nachtstück, es spielt am 23. Dezember, die Sonnwende des kürzesten Tages ist gerade vorbei, und es weihnachtet sehr.

Für die deutschsprachige Erstaufführung unter Jan Bosses Regie hat Stéphane Laimé die Bühne des Deutschen Theaters Berlin in eine schwarze Gruft verwandelt, beherrscht nur von einem übergroßen weißgedeckten Rundtisch – dem Stammtisch der Familie. Erst spielt ein kleines Mädchen darauf noch Ball, später scheinen sich auch Vater Albert und Mutter Bettina daran fast zu verlieren. Wenn sie einander nicht eh schon verloren sind.

Man stelle sich (eigentlich) das Heim kultureller Bohème am Prenzlauer Berg vor („Ikea trifft Biedermeier und Charles Eames Flohmarkt“). Albert ist Verfasser von Büchern, die „Geschichte des Menschenversuchs“ oder „Die Zukunft der Vergangenheit“ heißen, Bettina arbeitet als Drehbuchautorin, auch Bettinas Mutter Corinna ist zu Besuch, zudem bald noch der Maler Konrad, der Alberts Freund und wohl Bettinas Lover ist. Nicht die schlechteste Pointe, dass Konrad als Weihnachtsgastgeschenk, wie einen Blumenstrauß, einen Pinsel in der Hand hält. Einen Pinsel. Ja, und Albert hat in seinem Verlag mit einer jüngeren Lektorin gleichfalls was laufen – die Konstellation also erscheint konventionell. Das Ehepaar zickt und zankt sich, die (Schwieger-)Mutter nervt und Weihnachten auch. Das bevorstehende Fest als Katalysator familiärer Katastrophen: Schimmelpfennig lässt da nur wenig aus.

Jutta Wachowiak, die Grande Dame des Deutschen Theaters, muss über den Tisch robben

Bis Rudolph klingelt, als Überraschungsgast, der Fremde, von draußen aus dem Dunkel kommt er her. Corinnas Zug war am Nachmittag offenbar einige Zeit im Schneetreiben stecken geblieben, und sie hat sich in ihrem Abteil mit diesem Rudolph, einem älteren Herrn, angefreundet und ihn, der sonst Weihnachten allein in der Stadt verbringen müsste, spontan eingeladen. Ohne den anderen vorher etwas zu verraten.

Das wirkt zwar eine Spur gewollt. Aber allerhand Unwahrscheinliches, das vom Autor wohl als Unheimliches gemeint ist, nimmt so seinen Lauf. Judith Hofmann als Bettina und Felix Goeser als Albert müssen sich ihre – im US-amerikanischen David-Mamet-Stil – anfangs oft künstlich abgehackten Sätze an ihrem Riesentisch über opernhafte Distanzen zuwerfen. Doch bald wird ihre Zimmer- und Eheschlacht immer dichter. Auch Jutta Wachowiak, die für Momente immer wieder wunderbare große ältere Dame des Deutschen Theaters, muss als Großmutter Corinna schon mal über den Tisch robben oder unter ihm durchkriechen. Doch dieses Künstliche soll nicht nur jeden Anhauch von Kitchen-Sink abwehren, es will auch das Überwirkliche betonen. Denn mit dem Hereinschneien des unbekannten Herrn Rudolph beginnt das schwarzromantische Märchen.

Der frühere Arzt ist wohl ein Schatten Albert Mengeles

Bernd Stempels Rudolph schlägt dazu einen leisen, fast träumerischen Ton an. Es geht um eine leicht surreale Dämonie. Aber der angeblich elegante Dunkelmann trägt einen mausgrauen, an einen DDR-Funktionär erinnernden Biedermannanzug; man glaubt, es fehlt nur das Honeckerhütchen (Kostüme Kathrin Plath). Und das geht leider in die falsche Richtung.

Denn Rudolph kommt als Exildeutscher angeblich aus Paraguay, er war Arzt, redet verächtlich über Polen und Juden, spielt in der Luft gerne Chopin und Bach, spricht indes (angeblich „charmant“) fast nur gestanzte Sätze wie „Musik ist Ordnung“. Als ihm Konrads Gemälde mit dem Titel „Der Kampf“ erklärt wird, missversteht er „Mein Kampf“, und zu allem Überfluss schreibt Albert, der Autor des (philosophisch gemeinten) „Menschenversuchs“ gerade ein Buch über „Weihnachten in Auschwitz“. Also argwöhnt er, dass mit diesem fremden Herrn Rudolph „etwas nicht stimmt“.

Was auch jeder Zuschauer schon nach kürzester Zeit kapiert: dass der frühere Arzt und Südamerikaheimkehrer wohl ein Schatten Mengeles ist, ein Bruder Eichmanns. Das macht Schimmelpfennig mit zu vielen derben Anspielungen viel zu klar. Die Unheimlichkeit eines modernen Tartuffe oder des fremden Gasts und Verführers einer bürgerlichen Familie in Pasolinis „Teorema“ sind da fern. Auch gibt es reichlich Unsinniges – beispielsweise ruft selbst ein weihnachtsbaumallergischer Intellektueller wie Albert nicht am Abend des 23. Dezember, der hier auf einen Samstag fällt, bei seinem Arzt in der Praxis an und wundert sich, dass dort nur ein Band läuft. Kurz vor Schluss aber fängt sich die Geschichte noch: mit einem für alle romantischen Versionen von Zombies und Untoten schönen Einfall des Autors. Dieses gute böse Ende soll hier, wir sind im Märchen, nicht verraten werden.

Wieder am 27. Oktober sowie 8., 12. und 27. November

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