Liebesfilm "Laurence Anyways": Xavier Dolan feiert die Transsexualität
Außergewöhnliches Liebes-Epos aus Kanada: Regisseur Xavier Dolan weicht in seinem Film „Laurence Anyways“ die Geschlechtergrenzen auf.
Zu lang, sagen manche. Viel zu lang, zwei Stunden und neununddreißig Minuten. Aber wenn es doch ein Liebesfilm ist, der schon mal einen Tick länger dauern darf als andere Filme – Hauptsache, er ist mit Leidenschaft gemacht? Und wenn doch auch die Liebe selber oft länger dauert als die Zeit, die ihr amtlich bemessen ist, wenn sie nicht erlöschen will wie ein oberbraves Kerzenlicht, sondern weiterblakt und flackert und aufflackert und glüht und explodiert und Wiederbegegnungen erzwingt, geheime Abstecher aus längst anderweitigen Leben, Wiedertrennungen, Neuanfänge noch und noch?
Zu romantisch, sagen andere. Zu sentimental. Zu kitschig. Zu pathetisch. Aber wenn doch auch die Liebe romantischsentimental ist und pathetisch-kitschig, so schlimm, wie Liebe sein kann, und so schön? Wenn etwa plötzlich das Wohnzimmer unter Wasser steht, nur weil man auf dem Sofa in einem Liebesgedichtband liest, der eben noch in einem Umschlag im Briefkasten gesteckt hat, und nun stürzt einem der Wolkenbruch direkt auf den Kopf, bloß weil man liest, und überschwemmt das ganze Haus?
Wenn das alles richtig ist, die Einwände und ihr Gegenteil, dann sind wir wahrscheinlich in einem Film von Xavier Dolan, den sie drüben in Kanada immer noch „Wunderkind“ nennen. Inzwischen 24 Jahre alt, hat der Regisseur aus Québec bereits drei Filme gedreht, die jeweils auf dem Festival von Cannes uraufgeführt wurden. Allesamt erkunden sie, durchaus mit einer späten Neigung zur Nouvelle Vague, die Welt jenseits der Hetero-Geschlechtergrenzen: „J’ai tué ma mère“ erzählte von der Hassliebe eines pubertierenden schwulen Jungen zu seiner Mutter. „Les amours imaginaires“ ließ eine junge Frau und einen jungen Mann, die miteinander befreundet sind, sich in denselben rätselhaften Schönling verlieben. In „Laurence Anyways“ nun widmet sich Dolan den Wirrungen von Mittdreißigern, die ein gewaltiges Lebensgewitter durchzustehen suchen, bis sie es hinter sich lassen irgendwie – oder darin untergehen.
Der Literaturlehrer Laurence (Melvil Poupaud) und die Regieassistentin Fred (Suzanne Clément) sind seit zwei Jahren glücklich und leidenschaftlich und heiter zusammen, da eröffnet Laurence seiner Fred – schon die Vornamen schillern zwischen den Geschlechterzuschreibungen – am Vorabend seines 35. Geburtstages, er lebe im falschen Körper, er fühle sich als Frau. „Also verabscheust du alles, was ich an dir liebe“, entsetzt sich Fred, und eine erste Paniktrennung ist die Folge. Warum aber, heißt es schon anderntags, muss eigentlich die Liebe aufhören, nur weil eine Wahrheit dazwischenkommt? Macht das Annehmen einer Wahrheit nicht jede große Liebe größer?
Also: Weitermachen – als Neustart. Kraftvoll und offen nimmt das Paar die transsexuelle Verwandlung an, vor der Gesellschaft und in ihr und zur Not auch gegen sie. Also assistiert Fred Laurence beim Schminken und kauft ihm – Überraschung! – eine Perücke. Also teilt Laurence seiner nur mäßig überraschten, in der Pflege für den kranken Ehemann vereinsamten Mutter seine neue, eigentliche Identität mit. Und steht eines Morgens in Frauenkleidern vor der Klasse.
Nur ist schon bald nichts mehr, wie es bleiben soll. Wegen Elternprotesten verliert Laurence seinen Job und verlegt sich auf solipsistische Schriftstellerei. Seine Mutation zur Frau – nur die Operation steht noch aus – bedeutet zudem ständiges Spießrutenlaufen unter den Blicken einer nur scheinbar toleranten Öffentlichkeit. Bald sucht Laurence ersatzfamiliären Kuschelschutz bei einem Travestie-Tingeltangel, während Fred ihre Kraft in Wutausbrüchen gegen die Anzüglichkeiten von Fremden verbraucht. Und was besonders wehtut: Das Lachen geht dem einst so vitalen Paar verloren.
Das aber ist erst die halbe Strecke. Wie Xavier Dolan jenseits des gesellschaftlichen Bombardements, das die ungewöhnliche Zweierbeziehung überzieht, auf deren über Jahre sich erstreckende Implosion schaut, macht seinen Film vollends unverwechselbar. Mit der Sentimentalität, die man aus Großaufnahmen und dem Schwelgen in Slowmotion gewinnen kann. Mit dem filmmusikalischen Pathos, das Fever Ray, Céline Dion und Depeche Mode mal eben mit Brahms, Tschaikowski und sogar Beethovens Fünfter verquirlt. Vor allem aber mit den beiden Hauptdarstellern, die in ihrem Spiel Lebenshunger und Lethargie, Trauer und Aggression mühelos vereinen. Bis sie schließlich Laurences und Freds Heimatfinden in der Welt herzzerreißend unterspielen, ob in ihrer oder in ihrer.
In welche Höhen und Erkundungstiefen mag das Werk dieses jungen Regisseurs noch gehen, der nebenbei auch die Kostüme und den Schnitt zu „Laurence Anyways“ besorgt hat – und sein vierter Film soll inzwischen auch schon fertig sein? Immer verarbeite er beim Drehbuchschreiben extrem Persönliches, auch wenn er, fügt er hinzu, keineswegs transsexuell sei, sagt Dolan in einem Interview. Und dann, mit der Weisheit eines 24- oder auch 84-Jährigen: „Wir opfern unsere privaten Erinnerungen auf dem Altar der kollektiven Erinnerung, damit wir nicht vergessen werden, und überlassen uns dabei einem realen Leben, das davon unberührt weitergeht.“
Cinema Paris, FT am Friedrichshain, Passage, OmU im Babylon Kreuzberg
Jan Schulz-Ojala
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