Pankaj Mishras Streifzüge durch Asien: Moderne und Mittelalter
Das neue Buch von Pankaj Mishra macht keine Angst, es macht Lust auf mehr. Eine Rezension
Dieses Buch öffnet die Augen – gerade weil es nicht mit aller Macht eine These vertritt und Argumente und Fakten nach ihr ausrichtet. Es unternimmt vielmehr eine Reise in die Graubereiche der heutigen Welt. Graubereiche, die es immer schon gab, jedoch mal stärker, mal schwächer wahrgenommen werden. Es ist zwar nicht das erste Mal in der Geschichte, dass die Menschheit von starker Ungleichzeitigkeit geprägt ist – in ihrer Entwicklung wie in ihrer Beziehung untereinander. Aber es ist nun einmal die eigene Gegenwart, die immer wieder neu erscheint – auch wenn sie es historisch gesehen nur bedingt ist.
In diese Gegenwart vorzustoßen, ist das Ziel von Pankaj Mishra. Der 1969 in Indien geborene, in London und am Rand des Himalaja lebende Autor vom „New York Review of Books“, „New Yorker“ und „Guardian“ mit einem thematischem Schwerpunkt auf dem indischen Subkontinent, auf Afghanistan und China skizziert anhand des heutigen Asiens die zahlreichen Facetten der globalen Ungleichzeitigkeit des frühen 21. Jahrhunderts. In seinen Streifzügen durch die Literatur zu dieser, die Welt erneut prägenden Großregion und in vielen Begegnungen mit ihren Protagonisten aus Politik, Wirtschaft und Kultur setzt sich ein Bild zusammen, in dem mobiles Kapital, multinationale Konzerne und digitale Kommunikation zur Neuausrichtung mittelalterlich wirkender und scheinbar anachronistischer Identitäten beitragen. In Mishras treffendem Blick sind diese sich wechselseitig verstärkenden Verbindungen zwischen kosmopolitischem Globalismus und den quasi-provinziellen Meutereien ethnischer und religiöser Minderheiten zutiefst charakteristisch für unsere Zeit.
Er stößt auf politisches Chaos, gierige Unternehmen, fremdenfeindlichen Nationalismus und Völkermord
Entsprechend prägen Gegenüberstellungen und Kontraste Mishras neuestes Werk. In der Folge beschreibt es eine Welt, in der großartige unilineare Visionen – wonach Verbesserungen der Technologie, der Bildung, des Unternehmertums und der Produktivität zu einer globalen Konvergenz mit Wohlstand und Stabilität westlichen Stils führen werden – immer fadenscheiniger wirken. Auch Mishra hat es bei seinem Asienrundgang vor Augen geführt bekommen: Wahlen alleine bedeuten noch keine funktionierende Demokratie oder politische Stabilität; freie Märkte haben nicht immer zu größerer Freiheit geführt, bessere Bildungschancen und Kommunikationsmöglichkeiten nicht zwangsläufig zu mehr Toleranz und Menschenrechten. Auch Mishra stößt auf politisches Chaos, gierige Unternehmen, eine Verschlechterung des Klimas, fremdenfeindlichen Nationalismus und Völkermord. Umso stärker hinterfragt Mishra die angeblich universellen Gesetze des Fortschritts.
Dieses Hinterfragen endet nicht dort, wo es bei globalisierungskritischen Autoren meist endet: in einem Verteufeln der Gegenwart und einer Verdammung der Zukunft. Vielmehr weist Mishra – historisch betrachtet vollkommen zutreffend – darauf hin, dass das Leben auch in Asien weitergehen wird, trotz fehlgeleiteter Rationalität in Wissenschaft, Staat und Markt – und dies auf unerwartete Weise. Sie erkennt Mishra beispielsweise bei den Japanern und ihrer „Post-Wachstums-Ökonomie“, bei den Tibetern mit ihrer erneuten Hinwendung zum Glauben an ihren wiedergeborenen spirituellen Führer oder bei den Indonesiern mit ihrer Präferenz für eine Regierung „von unten nach oben“. Mishras Asien macht keine Angst, es macht Lust auf mehr – vor allem auf mehr Wissen und Verständnis im Westen.
Pankaj Mishra: Begegnungen mit China und seinen Nachbarn. Aus dem Englischen von Michael Bischoff. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 381 Seiten, 24,99 Euro.
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