zum Hauptinhalt
Aura und Politik. Benjamin Clementine kam 1988 in London zur Welt.
© Cecile Trystram/Universal

Benjamin Clementine im Porträt: Der Weltenwanderer

Benjamin Clementine gibt sich auf seinem zweiten Album „I Tell A Fly“ experimentierfreudig. Eine Begegnung mit dem britischen Popmusiker.

Der Mann ist eine echte Erscheinung. Er ist nicht nur groß, er ist ein Riese. Und obendrauf hat er noch diesen Haarturban, mit dem er aussieht, als würde er sich für die Hauptrolle in einem Biopic über Little Richard bewerben. Benjamin Clementine ist in Berlin, um im Büro seiner Plattenfirma in Kreuzberg sein neues Album vorzustellen.

Zuerst muss er jetzt noch eine rauchen. Beim Zeitplan mit den Interviews ist man längst hoffnungslos hintendran, aber Clementine scheint das gar nicht zu registrieren, in aller Ruhe lässt er seine Zigarette weiterglühen.

Wenn man ihm dann gegenübersitzt, ist man gleich ganz gebannt von seiner Aura. Er trägt ein weißes Rüschenhemd, in dem 99 Prozent der Menschheit lächerlich aussähen, Clementine steht es aber umwerfend gut. Er spricht ruhig und überlegt, lächelt gerne und strahlt doch eine kaum greifbare Melancholie aus.

Für sein Debütalbum bekam er den Mercury Prize

Vor ein paar Jahren noch war Clementine, der in London geboren und aufgewachsen ist, ein Straßenmusiker in Paris. In U-Bahnhöfen trug er Songs mit der Gitarre vor und hoffte auf ein paar Euro. Eine Zeit lang war er obdachlos und auch wenn man ihn gar nicht auf dieses Thema anspricht, kommt er während des Gesprächs irgendwann selbst drauf. „Ich habe richtig Scheiße erlebt“, drängt es aus ihm heraus. Die Erfahrung von damals, die angesichts seines aktuellen Erfolgs so weit weg zu sein scheint, lässt ihn immer noch nicht los.

Mehr oder weniger über Nacht wurde er vor zwei Jahren zum Star. Für sein Debütalbum „At Least For Now“, das eindringlich-melancholische Pianosongs versammelte, wurde er mit dem wichtigen britischen Mercury-Preis ausgezeichnet. Paul McCartney und David Byrne, der ehemalige Kopf der Talking Heads, gaben sich als seine Fans zu erkennen, die Presse feierte ihn als neues Genie der Popmusik. Die Geschichte von Benjamin Clementine klingt wie ein Märchen.

Clementine will sich nicht einfach wiederholen

Einer, der ganz unten war und es nun geschafft hat, könnte in die Versuchung geraten, alles dafür zu tun, sich oben zu halten, könnte man meinen. Im Falle Clementines hätte dies auch bedeuten können, dass er bei seinem zweiten Streich sein Debütalbum einfach kopiert, Risiken und Wagnisse weitgehend vermeidet und erneut die erprobte Erfolgsformel verwendet. Doch Clementine hat aus seiner Biografie genau gegenteilige Schlüsse gezogen. „Gerade deswegen, weil ich mal nichts hatte, kann ich machen, was ich will“, sagt er, ganz so, als habe der einstige Absturz ihn erst richtig stark gemacht. „Und so kann es sicherlich passieren, dass ich mit meiner Musik die Leute auch überfordere“, fügt er hinzu.

Und tatsächlich ist „I Tell A Fly“ eine einzige Überforderung, auch für fortgeschrittene Hörer. Die Platte funktioniert ein wenig wie Progrock-Alben in den Siebzigern, wo es Ehrensache war, eher zu viele Ideen als zu wenige in einen Song zu packen. Und es hat mit seinem Überschwang und seiner Exaltiertheit etwas von einem Pop-Musical. Bei weniger talentierten Songwritern würden all die Elemente, die er in seine Stücke packt, schnell das Songformat sprengen, die Nummern würden überladen und überambitioniert klingen. Bei Benjamin Clementine kriegen sie immer gerade noch so die Kurve. Die Spinett-Klänge, die eingestreuten Beats und dazu diese Stimme, die sich aufbläht, überschlägt und von Pathos und Inbrunst getragen wird – man versteht nicht immer sofort, wie und warum das alles so wunderbar miteinander harmoniert, aber wer möchte bei echter Kunst schon immer alles sofort kapieren.

Er hat fast alle Instrumente selbst eingespielt

Clementine, der unter anderem Nina Simone bewundert, was man seiner Gesangsakrobatik auch anhört, hat die Platte auch noch selbst produziert und so gut wie alle Instrumente darauf selber eingespielt. Er habe so viel selbst machen wollen, „um Fehler zuzulassen“, erklärt er. Auch diese Aussage klingt nicht danach, als sei es sein Ziel gewesen, nach seinem Erfolgs-Debüt erst mal auf Nummer sicher zu gehen. Ausgerechnet die Gitarre, das Instrument, mit dem er einst versuchte, ein wenig Geld auf der Straße einzuspielen, ist übrigens gar nicht auf dem Album zu hören.

„I Tell A Fly“ ist eine sehr persönliche Platte, sie solle ihn „als Menschen abbilden“, sagt Clementine. Er, einst selbst Migrant, ein Fremder ohne Geld, verhandelt sein eigenes Geschick, aber auch das derjenigen, mit denen er sich aufgrund seiner Biografie verbunden fühlt. Der Flüchtling, der in der aktuellen Diskussion nur noch als Problem verhandelt wird – in Europa nicht minder als in den USA – mit ihm identifiziert sich Benjamin Clementine, trotz seines sozialen Aufstiegs. „Es geht nicht nur um mich“, sagt er, „denn ich habe aktuell einen Platz zum Schlafen und lebe komfortabel, andere nicht.“

Es geht auf dem Album unter anderem um Geflüchtete

„I Tell A Fly“ ist ein politisches Album geworden, „aber das war gar nicht das Ziel“, sagt er. Es sei einfach passiert. Das Stück „God Save The Jungle“ etwa handelt vom inzwischen aufgelösten Flüchtlingscamp im französischen Calais, das aufgrund der verheerenden Zustände „Dschungel“ genannt wurde. Das ganze Album handele von Heimatlosigkeit und Entfremdung, sagt Clementine und er erzählt die Geschichte, die grundlegend war für das Schreiben seiner neuen Lieder. Als er in die USA flog, bemerkte er auf seinem Visum einen Vermerk – er kramt nun tatsächlich das Visum, das er immer noch besitzt, aus seiner Tasche und zeigt auf eine codierte Nummer – und dieser Vermerk bedeutet: „An Alien of extraordinary abilities“, was so viel heißt wie „ein Fremder“ oder „ein Außerirdischer mit außergewöhnlichen Fähigkeiten“. Der sonst so bedächtige Clementine ist jetzt doch ein wenig aufgebracht: „Warum ein Fremder? Warum ein Außerirdischer? Ich bin ein Mensch.“

Er habe sich inzwischen damit abgefunden, dass er als Unbehauster wahrgenommen werde, wenn nicht gar als jemand von einem anderen Planeten, sagt Clementine. Er sei „ein Wanderer“, der andauernd „Hello and Goodbye“ sage und „überallhin gehen und dann weiterziehen“ könne. Und er singt nicht zuletzt davon, dass andere das auch können sollten.

Benjamin Clementine „I Tell A Fly“ erscheint bei Caroline. Konzert: 20.11., 21 Uhr, Philharmonie

Zur Startseite