Comic-Klassiker: Der Weltbürger - Corto Maltese ist zurück
Hugo Pratt prägte den modernen Comic. Jetzt erlebt sein „Corto Maltese“ eine Renaissance: Ab sofort ist das neue Album „Unter der Mitternachtssonne“ auf Deutsch erhältlich.
Schnee und Eis bis zum Horizont, ein Hundeschlitten durchschneidet die weiße Fläche wie ein schwarzer Pfeil. Darauf zwei bärtige Männer, die einander beschimpfen. So beginnt eine gezeichnete Abenteuergeschichte, die eine Comic-Sensation darstellt: 20 Jahre nach dem Tod von Hugo Pratt, einem der wichtigsten Comicautoren überhaupt, begibt sich seine freigeistige Hauptfigur Corto Maltese erneut auf abenteuerliche Reisen, geschrieben von Juan Díaz Canales („Blacksad”) und gezeichnet von Rubén Pellejero („Dieter Lumpen“).
Jetzt ist das Album „Corto Maltese - Unter der Mitternachtssonne“ bei Schreiber & Leser auf Deutsch erschienen. Bei seiner Veröffentlichung auf Französisch im vergangenen Herbst wurde es in Frankreich und Belgien ähnlich gefeiert wie das neue „Asterix“-Album. Pratts Nachfolger haben ein ähnliches Erfolgsrezept wie das neue Autor-Zeichner-Team der Gallier: Sie erfreuen und überraschen das Publikum mit dem, was es kennt und erwartet.
Der Held lässt sich von niemandem vereinnahmen
Denn das neue Album bedient sich der Stilmittel, für die der 1927 in Italien geborene Pratt von seinen Fans – darunter Autoren wie Umberto Eco und Comiczeichner wie Frank Miller („Sin City“) – geliebt wurde und überträgt sie dezent in die Gegenwart: elegant reduzierte Zeichnungen, eine unaufgeregt erzählte Abenteuergeschichte vor realer historischer Kulisse, komplexe, oft ambivalente Charaktere, darunter bekannte Figuren der Zeitgeschichte, Traumsequenzen, Bezüge zu Literaturklassikern, Mythen und Märchen, schlagfertige Dialoge, Kämpfe auf Leben und Tod, Freundschaften und Loyalitätskonflikte, und vor allem eine charismatische Hauptfigur, den romantischen, leicht phlegmatischen Abenteurer Corto Maltese mit Koteletten, Kapitänsmütze und großem Ohrring, der sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts vom Zufall und der Weltgeschichte rund um den Globus treiben lässt.
Der literarisch gebildete Sohn eines englischen Vaters und einer spanischen Mutter ist ein Weltbürger, der stets seinen eigenen Weg geht und sich von keiner Seite vereinnahmen lässt. Sein erstes Abenteuer, die von 1967 bis 1969 entstandene 160-seitige „Südseeballade“, gilt als einer der ersten Comicromane, die heute gerne mit dem Marketingbegriff Graphic Novel etikettiert werden.
Pratt stammte, wie seine Hauptfigur, aus einer multinationalen Familie und liebte das Reisen. Cortos Abenteuer brachte er zwischen 1967 und 1989 zu Papier. Wie kunstvoll er das tat und wie würdig Pellejero und Canales das Erbe fortsetzen, das vermittelte kürzlich auch eine kleine, feine Ausstellung im Hergé-Museum bei Brüssel, die der Tagesspiegel im Rahmen einer Presseeinladung besuchte. Das Museum, das mit seiner Hauptausstellung dem Schöpfer von „Tim und Struppi“ gewidmet ist, feierte unter dem Titel „Rencontres et passages“ die doppelte Renaissance von Pratts Werk: Neben dem neuen Album werden jetzt auch die zwölf einst von Pratt geschaffenen Corto-Bände, die bei uns teilweise lange vergriffen waren, in einer liebevollen Edition mit viel Zusatzmaterial neu aufgelegt. Die ersten drei neu übersetzten Alben sind bereits auf Deutsch erschienen.
Das Besondere daran: Neben der später kolorierten Fassung der Abenteuergeschichten gibt es eine unkolorierte Fassung, die Pratts zeichnerische Souveränität wesentlich besser zur Geltung bringt, wie der Vergleich mit den Originalen in der Ausstellung zeigte. Die bestechen vor allem durch das Spiel mit Schwarz-Weiß-Kontrasten. Diese setzt Pratt einerseits für eine prägnante, dichte Figurenzeichnung ein, versteht es aber zugleich, mit großen Weißflächen und wenigen, flüchtig wirkenden Strichen stimmungsvolle Landschaften anzudeuten und teils abstrakt wirkende Kulissen zu erzeugen. Das schafft eine starke, oft träumerische Atmosphäre, ganz nach Pratts Credo, dass es hinter der bekannten Welt und ihren Zeichen immer auch eine geheime Welt zu entdecken gibt.
Auf Jack Londons Spuren in den hohen Norden
Im neuen Band ist dies der hohe Norden des amerikanischen Kontinents, die Arktis. Hierhin verschlägt es Corto Maltese im Jahr 1915 aufgrund einer Bitte Jack Londons. Der schwer kranke Abenteuerschriftsteller bittet Corto darum, einen Brief an seine einstige Geliebte zu überbringen, die zuletzt in der Goldgräberstadt Dawson City lebte. Also macht Corto sich auf die Reise und begegnet dabei historischen Gestalten wie dem Polar-Pionier Matthew Henson, der aus rassistischen Gründen wegen seiner schwarzen Hautfarbe um seinen Ruhm betrogen wurde.
Im direkten Vergleich der Originalzeichnungen fällt auf, wie nahe die neuen Seiten an Pratts Stil sind – eine angemessene Fortsetzung, wenngleich wenig innovativ oder originell. Dass es ausgerechnet Jack London ist, dem Corto sein neues Abenteuer zu verdanken hat, dürfte Pratt gefallen haben. „Er war für mich einer der prägendsten Autoren“, wurde der Zeichner in der Brüsseler Ausstellung zitiert. Zwar sei ihm von Kritikern immer attestiert worden, er sei ein Kind Melvilles, Conrads oder Stevensons, was auch zutreffe. Aber genauso sei er auch ein Kind von Autoren wie London, der in der offiziellen Kultur wenig geschätzt und als „Abenteurer“ abgetan werde. Dabei gelte für das Erzählen von guten Abenteuergeschichten die gleiche Regel wie für das Zeichnen guter Comics: „Auf acht Sekunden Intuition folgen acht Stunden Knochenarbeit.“
Rubén Pellejero, Juan Díaz Canales: Corto Maltese - Unter der Mitternachtssonne, Schreiber & Leser, 100 Seiten, 24,80 Euro.
Redaktioneller Hinweis: Dieser Artikel wurde anlässlich der französischen Ausgabe des neuen Corto-Maltese-Albums erstmals am 29.10. 2015 im Tagesspiegel veröffentlicht und wurde aus aktuellem Anlass leicht aktualisiert. Eine ausführlichere Rezension des aktuellen Albums folgt in Kürze!
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