"Wanderlust"-Ausstellung in Berlin: Der Weg ins Freie - und Unbekannte
Gipfelstürmer und Landschaftsmaler: Die Alte Nationalgalerie widmet sich in einer herrlichen Sommerschau der „Wanderlust“.
Gefühlt verkörpert er die Krone der Schöpfung – der Wanderer, der bei Caspar David Friedrich im grünen Gehrock hoch oben auf einem Felsen steht. Unter ihm liegen die Berge, von Nebelschwaden umhüllt. Weil der Maler die Figur als Rückenansicht zeigt, können die Betrachter die Perspektive des Wanderers einnehmen und ihren Blick in die Weite schweifen oder sich zu eigenen hochfliegenden Plänen inspirieren lassen.
In Caspar David Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“, um 1817 entstanden, verdichtet sich das Thema der fulminanten Schau „Wanderlust“ in der Alten Nationalgalerie. Die Leihgabe der Hamburger Kunsthalle reist selten und ist jetzt zum ersten Mal in Berlin zu sehen. Hier wird das Bild von zwei verwandten Gemälden flankiert, von Georg Friedrich Kerstings „Herr auf einem Hügel“ (um 1820) und von Carl Gustav Carus’ „Wanderer auf Bergeshöh“ von 1818. Friedrich, Kersting und Carus, wanderten oft und gern gemeinsam.
In der Ausstellung geht es nicht um des Müllers Lust, nicht um das zielgerichtete Zufußgehen der Handwerker. Sondern es geht um das, was die isländische Sängerin Björk in ihrem Lied „Wanderlust“ beschreibt. Da führt der Aufbruch ins Unbekannte zu den eigenen Ursprüngen. Als fremdes Wort ist die deutsche Wanderlust im Englischen gelandet. Björks exzentrisches Video passt überraschend gut zu den Bildern der Romantiker.
Natur, die zum Spiegel der Seele wird
Sie entdeckten das Wandern als selbstbestimmte Bewegung, mit dem einzigen Zweck, über die eigenen Ziele nachzudenken. Nach der Losung von Jean-Jacques Rousseau „Zurück zur Natur“ eroberten sich die Künstler neue Freiräume in Himmelsnähe. „Die Landschaft ist eine Möglichkeit, sich bestimmten, verbindlichen Aussagen zu entziehen. Landschaft ist auf den ersten Blick ideologiefrei“, sagt die Kuratorin Birgit Verwiebe.
Der erste Raum in der Alten Nationalgalerie zeigt noch die Vorstellung einer gewaltigen, furchteinflößenden Natur. Bei Jakob Philipp Hackert erklimmen 1774 winzige Menschlein am Rande eines glühenden Lavastroms den feuerspeienden Vesuv. Wenig später beginnt mit dem Aufbruch des Bürgertums das Wandern als Selbsterfahrung in einer Natur, die zum Spiegel der Seele wird.
Bei der Promenade können die Besucher in Himmeln schwelgen – dem zart rot gefärbten Winterhimmel bei Johan Christian Dahl oder dem strahlend blauen Alpenhimmel bei Karl Eduard Biermann. Sie können in den klaren Farben die köstliche Luft der Berge imaginieren oder die erfrischende Strapaze des Wanderns nachvollziehen, wenn sie bei Carl Blechen den Wanderer in einer gotischen Kirchenruine ruhen sehen. Die Natur erscheint hier nur als Moos und Efeu über dem Stein. Und sie spüren die Sehnsucht, wenn sich nach der Alpenquerung die liebliche italienische Ebene öffnet.
Während der Adel bei seiner Bildungsreise, der Grand Tour, in der Kutsche unterwegs war, gingen die Künstler zu Fuß. Die unbeschriebene Landschaft bot ihnen die Chance, die Gesellschaftsordnung neu zu definieren. Dabei birst der französische Maler Gustave Courbet vor Selbstbewusstsein. Im milden Licht der Mittelmeerküste malt sich Courbet bei der Begegnung mit seinem Mäzen Alfred Bruyas. Der Künstler reckt keck seinen dunklen Bart, während der Millionär mit gesenktem Blick ehrerbietig grüßt. In der Ferne ist die Kutsche zu sehen. Courbet aber trägt stolz seinen Tornister mit den Malutensilien selbst. In Wahrheit reiste der Künstler allerdings mit der Bahn nach Montpellier.
„Bonjour Monsieur Courbet“. Schon der Titel schafft klare Verhältnisse. Der Sammler grüßt zuerst. Mit der hinreißenden Leihgabe aus dem Musée Fabre, das die Sammlung Bruyas beherbergt, ist noch eine weitere kleine Sensation verbunden. Denn neben Courbets glanzvollem Auftritt hängt ein etwas verhuschtes Selbstporträt von Paul Gauguin aus dem Jahr 1889. Er war ein Jahr zuvor mit Vincent van Gogh zum Musée Fabre nach Montpellier gepilgert, um die Werke des verehrten Courbet zu studieren. Anschließend entstand seine bittere Selbstpositionierung als Künstler: „Bonjour Monsieur Gauguin“ zeigt den Maler niedergedrückt von der schweren Pelerine der Pilger. Den Gruß entrichtet kein Millionär, sondern eine Bäuerin, die nicht einmal stehen bleibt.
Das Wandern steht für Entwicklung, für Selbstfindung
Die Künstler skizzierten ihre Eindrücke im Freien, mussten die Gemälde aber im Atelier fertigstellen, die Ölfarben ließen sich vor Erfindung der Tube noch nicht transportieren. Die Szenen sind also eine Mischung aus Wahrhaftigkeit und Vision. Caspar David Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“ blickt gleichzeitig über die sächsische und über die böhmische Schweiz. Karl Friedrich Schinkel entwirft in seinem Bild „Das Felsentor“ architektonische Felsformationen, die den Blick wie durch ein Nadelöhr lenken. Bei Schinkel ist die Wanderung Sinnbild für den Lebensweg. Durch das Felsentor sieht man, wie sich drei Wanderer den Berg hinaufmühen, dicht am Abgrund.
Das Wandern als Bewegung steht für Entwicklung, für Selbstfindung, auch für die Vergeblichkeit des Lebens und schließlich für die Seelenwanderung. Der Ausstellungsrundgang kreist um den Caspar David Friedrich-Saal mit dem „Mönch am Meer“.
Auch Frauen nahmen sich die Freiheit des Wanderns heraus
Den eigenen Lebensweg zu wählen, blieb zunächst ein Privileg der Männer. Das lag auch an der Ausrüstung. Zwar wirken die Wanderer mit Holzstock, Zylinder und Kürbisflasche aus heutiger Sicht dürftig ausgestattet. Aber Reifrock und Seidenschuhe hinderten Frauen ganz, unbefestigte Wege zu beschreiten. Im Katalog kann man von Pionierinnen lesen, die sich über die gesellschaftlichen Beschränkungen hinwegsetzten. Bettina von Arnim nahm sich die Freiheit des Wanderns heraus. Mehr noch als den Malern fiel der Dichterin der Rhythmus des Gehens auf. 1808 bestieg Marie Paradis als erste Frau den Mont Blanc. Die Holländerin Jeanne Immink erfand nicht nur den Abseilgurt, sondern auch die Kletterhose für Frauen. Aber niemand hat die Wegbereiterinnen gemalt.
Während die Künstler als einsame Wanderer die Konfrontation mit dem Berg suchen, verschmelzen die Frauen mit Wiesen und Gärten. In Auguste Renoirs duftigem Sommerbild „Chemin montant dans les hautes herbes“ von 1876/77 lösen sich die Figuren fast auf zwischen tanzenden Sonnenflecken und fedrigem Gras.
„Wanderlust – Von Caspar David Friedrich bis Auguste Renoir“. 10.5. bis 16.9.2018 Alte Nationalgalerie, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr, donnerstags bis 20 Uhr. Katalog Hirmer Verlag, 29 €