Thomas Hettches "Herzfaden": Der ultimative Roman über die Augsburger Puppenkiste
Das Präsens der Fantasie: Der Berliner Schriftsteller Thomas Hettche erzählt in seinem Roman „Herzfaden“ die Geschichte der Augsburger Puppenkiste.
Laut Antoine de Saint-Exupéry sieht man nur mit dem Herzen gut. Seit seinem Debüt „Ludwig muss sterben" von 1989 hat Thomas Hettche immer wieder „Herzschriften“ in Form von Romanen oder Essays verfasst. Sie lesen sich als lebendiges Echo der deutschen Romantik und deren Zentralorgan, wie es Wilhelm Hauff 1827 in dem Bergwerks-Märchen „Das kalte Herz“ thematisierte.
Das letzte Wochenende des sterbenskranken Ludwig („Herzinfarkt Herzklopfen Herzdrücken Herzstechen“) schilderte Hettche aus der Perspektive von dessen psychisch krankem Bruder; einer von Hettches sublimen Essaybänden heißt „Unsere leeren Herzen“.
Und nun hat er „Herzfaden“ geschrieben, den „Roman der Augsburger Puppenkiste“, wie das optisch ansprechende, abwechselnd in blau und rot gedruckte Buch im Untertitel lautet. (Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020. 286 S., 24 €.) Mit feinem Strich zaubert der Illustrator Matthias Beckmann die Berühmtheiten der Augsburger Institution aufs Blatt: Prinzessin Li Si, Kater Mikesch, Urmel aus dem Eis oder das charakterlich stets ambivalente Kasperle.
So wie es unklar bleibt, ob die moribunde Titelfigur aus „Ludwig muss sterben“ überhaupt existiert oder sie nur der psychopathologischen Einbildungskraft des Bruders entsprungen ist, so rätselhaft und reizvoll erscheint der Terminus „Herzfaden“.
Hettche lässt sich auch von Kleists Aufsatz "Über das Marionettentheater" inspirieren
Im Plural gebraucht bezeichnet er die Sehnen, die im Herzen die Klappen mit den Muskeln verbinden, erläutert Hanns. Er ist eine der an realen Vorbildern orientierten Figuren im „blauen“ Teil des Romans, der die Geschichte des Augsburger Schauspielers und „Puppenkisten“-Erfinders Walter Oehmichen und seiner Familie rekonstruiert.
Im Sommer 1939 liegen die neunjährige Ulla Oehmichen und ihre ein Jahr jüngere Schwester Hannelore, genannt „Hatü“, in ihren schmucken Dirndln auf einer Almwiese, als sie die Mutter eilig herbeiruft: Die Ferien sind beendet, der Vater wird eingezogen. Im Lazarett lernt Walter Oehmichen einen Tiroler Holzschnitzer kennen, der ihn inspiriert.
Zurück in Augsburg, beginnt er mitten im Krieg ein Marionettentheater aufzubauen. Der „Puppenschrein“ passt in einen Türrahmen. Mutter Rose schneidert die Kostüme und einen himmelblauen Bühnenvorhang. Auf Ullas Frage, ob ein Theatervorhang nicht rot sein müsse, entgegnet der Vater: „Im Menschentheater schon, denn rot ist die Farbe unseres Blutes. Marionetten aber haben kein Blut. Ihr Theater hat die Farbe des Himmels.“
Poetologisch hochversiert, streut Thomas Hettche immer wieder solche halbabstrakten, von Kleists berühmtem Aufsatz „Über das Marionettentheater“ inspirierten Überlegungen in seine Augsburger Familienchronik. Für einen in Berlin lebenden Hessen hat er sie mit erstaunlich viel Lokalkolorit aus Bayerisch-Schwaben grundiert.
Er habe sich viel vor Ort herumgetrieben, verriet er der „Augsburger Allgemeinen“. Und auch, dass ihm als Kind des Jahres 1964 die legendären Fernsehaufführungen der Augsburger Puppenkiste mit ihrem Meer aus Plastikfolie eine Ahnung davon vermittelt hätten, „wie der Zauber von Geschichten entsteht“.
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„Herzfaden" ist also auch die literarische Abtragung einer Dankesschuld, in erster Linie aber eine Hommage an die Puppenschnitzerin Hannelore „Hatü“ Marschall-Oehmichen, die 2003 starb. Doch Hettche führte Gespräche mit ihrer Schwester und dem Sohn Klaus Marschall, der die Puppenkiste jetzt leitet.
Gerade zwei Meter lang und 90 Zentimeter hoch ist die legendäre Holzkiste, die seit dem 21. Januar 1953 zur Freude unzähliger Kindergenerationen in der ARD erschien. Anfangs wurde noch live vor den Kameras gespielt, da keine Aufzeichnungen möglich waren.
Nachdem das ursprüngliche Theater der Bombennacht des 26. Februar 1944 zum Opfer gefallen war, setzte Walter Oehmichen auf ein transportables Modell, „mit dem man überall spielen kann, auch in den Ruinen“. Genau vier Jahre später feiert die Augsburger Puppenkiste mit dem „Gestiefelten Kater“ wieder Premiere.
Oehmichen ist überzeugt, dass neben Kopfholz, Schulterholz und Handholz, die die Marionette halten und führen, es vor allem der unsichtbare „Herzfaden“ ist, der die Verbindung zum Publikum herstellt: „Wir wackeln mit einem Stück Holz! Alles andere geschieht im Kopf des Zuschauers. Ein Schauspieler spielt das Sterben, eine Marionette aber stirbt tatsächlich. Denn wenn wir aufhören, sie zu bewegen, ist sie für den Zuschauer wieder nichts anderes als totes Holz. Und dann wird sie wieder lebendig. Märchenhaft sind nicht die Geschichten, die wir erzählen, ein Märchen ist das Erzählen selbst.“
"Herzfaden" ist eine Hommage an die Puppenschnitzerin Hannelore Marschall-Oehmichen
Um diesen Gedanken Leben einzuhauchen, bedient sich Hettche eines zweiten, rot gedruckten Handlungsstrangs. In ihm gerät eine Zwölfjährige nach dem Besuch einer Vorstellung aus Neugier auf den Dachboden der Spielstätte. Ähnlich wie Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“ schrumpft das Mädchen auf die Größe der Marionetten-Gegenüber.
Mit der Taschenlampen-Funktion seines iPhones versucht es, Licht in die Sache zu bringen – bis sich der böse Kasper des Geräts bemächtigt. Dieser Gegenwartsbezug wirkt allerdings etwas gewollt. Zum Glück hat das Handy im Figurenfundus keinen Empfang, so dass die Realität ausgeblendet bleibt.
Das bekräftigt Hettche damit, dass er die Puppenschöpferin Hatü von der blauen Chronik-Seite des Romans auf die rote wechseln lässt, vom Stand- auf das Spielbein gewissermaßen: Lebensgroß in einem weißen Seidekostüm sitzt Hatü auf dem Boden und zündet sich eine Zigarette nach der anderen an.´
Hatü erzählt also ihre Geschichte – wie sie und ihre Truppe 1951 im Schloss Nymphenburg vor ehemaligen Widerstandskämpfern und notdürftig umgefärbten Altnazis auftraten, wie sie moderne Autoren wie Saint-Exupéry, Augsburgs lange ungeliebten Sohn Bert Brecht und schließlich Michael Ende auf die Bühne brachte.
Die Puppe des Kleinen Prinzen hielt Hannelore Marschall-Oehmichen für ihre gelungenste: „Mit dem ernsten Mund wirkt er zerbrechlich und seltsam erwachsen zugleich. Die großen Leute verstehen nie etwas von selbst, schreibt Saint-Exupéry.“ Dieses Von-Selbst-Verstehen, wie es nur Kindern gegeben ist, erreicht „Herzfaden“ in seinen besten Passagen.
„Eine Königin, was ist das überhaupt?“, fragte Hettche scheinbar naiv in seinem letzten Roman „Die Pfaueninsel“ – jetzt greift er die Frage wieder auf, als Hatü 1953 staunend die Fernseh-Übertragung der Krönung von Elizabeth II. verfolgt.
Hatü ahnt, dass Endes „Jim Knopf" etwas mit der Sehnsucht zu tun haben könne, „die sie alle seit dem Krieg haben“. „Aber was ist eigentlich ein Märchen?“ will sie von Ende wissen und bekommt die Antwort: „Man wünscht sich etwas und es geht in Erfüllung. Das ist ein Märchen. Oder man wird verwünscht und muss wieder gelöst werden. Dazu findet man Helfer in der ganzen Welt, Tiere, die Sonne, Zwerge. Das Märchen sagt: Nichts ist folgenlos und nichts Schicksal.“ Nichts weniger als dieses ewige Präsens der Fantasie holt Thomas Hettche von der Marionettenbühne und feiert es in seinem besonderen Roman.
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