Roman: "Hool" von Philipp Winkler: Der Traum vom Tiger
Mit „Hool“ hat Philipp Winkler einen kraftvollen Debütroman geschrieben - der völlig zu Recht für den Deutschen Buchpreis nominiert ist.
Was geht denn jetzt hier ab? Das fragt man sich genauso bange wie sofort gespannt und mit vollster Aufmerksamkeit beim Lesen der ersten Seiten von Philipp Winklers Debütroman „Hool“. Von einem Kampf ist da die Rede, viel öfter jedoch von einem „Match“ (Match, hää?), zu dem fünf Männer in einem VW-Transporter fahren, von Zahnschutz (aber „keins dieser Billoteile aus Massenproduktion“), von der richtigen Aufstellung, von „Shotgun-Spielen“ und ob Koks eigentlich die richtige Vorbereitung für so ein Match sei: „Besser Hose voll als Nase voll, Herr Daum“.
Das Tempo, mit dem dieser zurecht für die Shortlist des Deutschen Buchpreises ausgewählte Roman beginnt, ist enorm und lässt bis zum Ende nicht nach – und die Welt, in die der 1986 geborene, in der Nähe von Hannover aufgewachsene Autor seine Leser und Leserinnen führt, der Titel deutet es an, ist die der Hooligans, der gewaltbereiten Fußballfans. Diese Welt hat etwas Seltsames, Fremdes und Exotisches, in der deutschprachigen Gegenwartsliteratur sowieso, zuletzt hat Clemens Meyer da ein paar Einblicke verschafft, 2006 mit seinem Roman „Als wir träumten“, aus ostdeutscher Perspektive. Aber auch weil es sonst kaum einen Zugang zu ihr gibt. Das zeigte sich im Sommer einmal mehr bei der Fußball-Europameisterschaft in Frankreich, als sich vor allem britische und russische Hooligans am Rande der Spiele prügelten. Zum einen versteht sowieso niemand, warum sie das tun, zum anderen war damit gar nicht gerechnet worden, weil man in den vergangenen Jahren glaubte, die Hooligan-Szene gerade in der Umgebung des immer größer, ökonomisch immer wichtiger werdenden Fußballs unter Kontrolle zu haben.
Willkommen im Wotan Boxing Gym
Gewalt, Drogen, Fußball, Freundschaftsbünde, all das findet sich nun in „Hool“ – so wie es das Intro verspricht, da die Hannoveraner in ihren roten Trikots gegen die weißgekleideten Kölner „matchen“ und siegreich daraus hervorgehen, mit der Belohnung, dass das Adrenalin wie wild durch die Körper rast. Doch Winkler erzählt noch viel mehr, gerade in der Person seines Heldens und Ich-Erzählers Heiko Kolbes sowie dessen Familie, Freunden und Bekannten bekommt er einen anschaulich-authentischen Zugriff auf diese Szene.
Heiko arbeitet im „Wotan Boxing Gym“ seines Onkels, einem Fitness- und Boxstudio, in dem auch Drogen umgeschlagen werden, gelegen in einer alten Fabrikhalle in einem Stadtteil von Hannover. Er hat das Gymnasium geschmissen, aber den Zivildienst geleistet. Sein Vater ist Alkoholiker, die Mutter hat die Familie früh verlassen, da war er noch klein, und seine ältere Schwester versucht, sich in Göttingen als Lehrerin ein bürgerliches Leben aufzubauen. Heiko ist froh, wenigstens nicht mehr bei seinem Vater wohnen zu müssen und hat bei einem skurrill-gefährlichen Mann namens Armin Unterschlupf gefunden. Armin betreibt eine Art Tierfarm, er veranstaltet Pitbull-Kämpfe und hält sich ein paar dieser Hunde. Aber auch andere Tiere, wie zum Beispiel einen Geier, der Siegfried heißt. Sein größter Traum aber ist ein Tiger, und eines Tages besorgt er sich einen in Polen, mit der Hilfe von Heiko, eine der großartigsten wie auch lustigsten Szenen dieses Romans.
Ein "Match" in Braunschweig endet mit einer Katastrophe
Einer der Vorzüge von „Hool“ ist, dass Philipp Winkler gewissermaßen in Splittern erzählt, kaleidoskopisch, was gleichermaßen für Geschwindigkeit sorgt wie es das zerrissene, vielfach beschädigte Leben des Heldens schön abbildet. Heiko blendet häufig zurück, sprunghaft, wie es scheint, und dann erzählt er zum Beispiel, wie sein Vater von einem Trip nach Phuket mit einer Thailänderin zurückkehrt und diese ihm und seiner Schwester als neue Mutter vorstellt; wie er sich in Yvonne verliebt, die später heroinabhängig wird; oder was es mit Jojo und Joel auf sich hat, einem Brüderpaar, das neben Ulf und Kai zu seinen besten Hool-Freunden zählt; beide sind, wie sie alle, eingefleischte Hannover-96-Fans und, wie es sich als solche gehört, genauso eingefleischte Eintracht-Braunschweig-Hasser. Joel bringt sich eines Tages um.
Zwischen diese Erinnerungen von Heiko schieben sich die Ereignisse aus der Gegenwart: der Tigerkauf, die Suche nach dem Vater, nachdem dieser aus einer Entzugsklinik ausgebüchst ist, weitere Matches, von denen eins in Braunschweig übel ausgeht, weil Heikos Freund Kai lebensgefährlich verprügelt wird und sein Augenlicht zu verlieren droht. Nach und nach schält sich heraus, dass sich die Freunde jenseits der Hooligan-Szene entwickeln, sie anders zu leben beginnen. Nur Heiko bleibt sich treu, er will weiterhin seiner Wut auf das bisherige Leben in den Kämpfen mit anderen Hooligan-Gruppen Ausdruck geben – und steht bald sehr allein da. „Hool“ ist so auch ein Bildungsroman, ein unvollständiger, da sich sein Held standhaft gegen eine Erziehung der Gefühle und des Lebens wehrt. Es passt, dass eine der letzten Geschichten dieses Romans davon handelt, wie Heiko von seinem Vater an den Fußball herangeführt wird, an dessen Subkultur, nicht zuletzt mit einer Jeansweste, die dieser ihm schenkt, mit dem Logo des Lieblingsvereins: „Ja. Heiko. 96, das is’ was.“
Manchmal kommt der Autor seinem Ich-Erzähler in die Quere
Schön authentisch wird Winklers Roman durch seine Sprache, was allerdings auch ein kleines Manko darstellt, da Winkler seinen Sound nicht ganz durchhält. Heiko spricht betont wider diese „behütete Gutbetuchtes-Elternhaus-Scheiße“, wenn man so will stellvertretend wider den Sound der deutschsprachigen Literatur. Er und seine Freunde „schütten sich noch schnell ein Pils vom Fass in die Hälse“, haben „keinen Bock auf Drecksmucke“, prügeln sich „die Scheiße aus dem Arsch“. Oder jemand wie Armin sagt: „Bin eh viel zu kirre zum Penn’“ oder „Papp’lapapp, datt is’ Landsberch anner Warthe, nich’ mehr weit jetz’.“
In den Dialogen, der wörtlichen Rede ist Winkler konsequent, nur seinem Ich-Erzähler Heiko kommt er als Autor immer mal wieder in die Quere, besonders bei der Beschreibung von städtischen oder ländlichen Szenerien, der Natur überhaupt. Da zeigt sich der „weichgezeichnete Umriss“ der Stadt, da baut dieser sich im „bläulichen Morgenlicht“ auf, oder da ist der Fahrtwind nicht nur „eisig“, sondern pfeift noch „in Messerspitzen“ durch die Fenster. Klar, so redet kein Hooligan, selbst wenn er wie Heiko einer der reflektierterten Sorte ist, so redet ein angehender Schriftsteller, ein Autor, der wie Winkler in Hildesheim Kreatives Schreiben studiert hat.
Doch nimmt keine dieser gewählteren, ansatzweise poetischen Formulierungen etwas von der Wucht von Winklers Geschichten, von ihrer Rasanz, von ihrem genauen Blick in eine Welt, die nicht gerade zum Tummelplatz der jüngeren deutschsprachigen Gegenwartsliteratur gehört. Schade, dass nach 310 Seiten „Hool“ mit einem schön filmischen, aber irgendwie herbeigezwungenem Bild schließt – man hätte gern noch ein paar mehr Geschichten aus Heikos Leben erzählt bekommen.
Philipp Winkler: Hool. Roman. Aufbau Verlag, Berlin 2016. 310 Seiten, 19, 99 €.
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