Netflix-Kultserie: Der „Tiger King“ kuschelt am liebsten mit Raubkatzen
Das bizarre Medien-Phänomen läuft jetzt auch in Deutschland auf Netflix: die Dokuserie „Großkatzen und ihre Raubtiere“ vermischt Milieustudie und True Crime.
Blondierte Vokuhila-Frisur, Schnauzbart, ein Dutzend Piercings und einen Colt in Cowboy-Maier lässig um die Hüften geschnallt. So sieht der neue Netflix-Star Joe Exotic aus, der sich seit dem Start der siebenteiligen True-Crime-Dokumentarserie „Tiger King“ (deutscher Titel: „Großkatzen und ihre Raubtiere“) zu einem skurrilen Medienphänomen entwickelt hat. Eigentlich wollten die Filmemacher Eric Goode und Rebecca Chaiklin eine Dokumentation über die wachsende Szene von Großkatzenhaltern in den USA drehen. Dort leben allein 5000 bis 10.000 Tiger in Gefangenschaft, mehr als weltweit in freier Wildbahn.
Mit den Raubtieren lässt sich gutes Geld verdienen, jahrelang ist Joe Exotic mit seinen Tigerbabys aus eigener Zucht durchs Land gereist. In den Shopping-Malls zahlt die Kundschaft für ein Selfie mit einem süßen Raubkatzenbaby. In Oklahoma, wo der Handel mit Raubtieren und Maschinengewehren gleichermaßen legal ist, betreibt Joe Exotic einen Zoo mit über 300 Tigern, Löwen, Pantern und Luchsen. Es gibt genug Kunden, die sich mit einem Tier vom oberen Ende der Nahrungskette ablichten lassen. Auch Joe Exotic setzt sich gerne neben Löwen und Tigern kuschelnd ins Bild und vermarktet sich mit einem Kanal auf Youtube.
Alles könnte bestens laufen für den exzentrischen, schwulen Tigerzüchter, wäre da nicht die Tierschützerin Carole Baskin, die in Florida ein Tierheim für gerettete Raubkatzen betreibt. Sie zieht gegen Züchter und Großkatzenquäler ins Feld. Das Haus ist vollgestellt mit Katzenskulpturen; Sofabezüge, Tapeten, fast jedes Stück im begehbaren Kleiderschrank ist in Tiger- oder Leopardenmuster gehalten. Carole hat eine Mission, in ihr hat Joe seine Nemesis gefunden.
Safari-Gurus und Drogenhändler
Mit Carole taucht die Serie ihre Erzählung, zunehmend von einer skurrilen Milieuschilderung in einen bizarren Crime-Plot ein. Man merkt Goode und Chaiklin immer wieder die Überraschung an, angesichts der unglaublichen Details und Ereignisse, die sich vor ihrer Kamera abspielen. Die Fehde zwischen Tigerzüchter und Tierschützerin, die bis hin zum Auftragsmord eskaliert, hätte sich kein Serienschreiber ausdenken können.
Ähnliches gilt für das Arsenal der kuriosen Nebenfiguren. Die reichen von einem Safari-Guru, der sich in seinem Zoo nicht nur hunderte Raubtiere hält, sondern auch einen Harem ehemaliger Praktikantinnen, über den verurteilten Drogenboss Mario Tabraue, nach eigenem Bekunden das Vorbild für Al Pacinos Scarface, bis hin zu Caroles Ex-Mann, den seine Frau, so behaupten jedenfalls ihre Konkurrenten, an die Tiger verfüttert haben soll.
Dass viele der Berichtenden während des Interviews ausgewachsenen Raubkatzen den Nacken kraulen, fällt angesichts ihrer unglaublichen Erzählungen irgendwann gar nicht mehr auf. Die Selbstdarstellungen stehen unkommentiert nebeneinander, das Publikum muss sich selbst auf die Suche nach der Wahrheit machen, auch wenn Joe Exotic mittlerweile wegen versuchten Auftragsmordes und anderen Delikten im Gefängnis sitzt.
Auf der Couch mit Raubtier-Joe
In Zeiten erzwungener sozialer Distanz scheint sich das Konzept der Reality-Serie als eskapistisches Suchtfutter zu bewähren. Statt Bauchmuskeltraining oder Schrankaufräumen mit Marie Kondo verfallen die Zuschauer reihenweise dem eigenwilligen Raubtierhalter-Drama, das sie in ein groteskes Parallel-Universum entführt. In den USA ist „Tiger King“ laut Branchenmagazin "Variety" die am meisten gestreamte Serie und auf dem deutschen Netflix-Portal rangiert sie auf Platz eins der beliebtesten Serien.
In den Social-Media-Kanälen wird derweil wild über Schuldfragen und alternative Handlungsverläufe diskutiert. Auf Twitter ist der Hashtag #tigerking eingerichtet worden, wo der Ruf nach Spin-Offs für die illustren Nebenfiguren immer lauter wird. Memes überschwemmen die Instagram-Accounts. Sogar Sylvester Stallone hat schon ein Bild von sich und seiner Familie in einschlägiger Kostümierung gepostet.
Mitten in diesen Hype brach gerade die Meldung herein, die plötzlich alles wieder in die Realität zurückholt: Die „New York Post“ berichtet, dass Joe Exotic als Corona-Verdachtsfall auf die Isolierstation des Gefängniskrankenhauses verlegt wurde. Das Virus hat auch dieses Flucht-Narrativ gekapert.
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