Roman von George Saunders: Der Sünder zahlt nach
Im Höllenkreis der Schuld: George Saunders und sein Roman „Lincoln im Bardo“, der mit dem internationalen Man-Booker-Preis ausgezeichnet wurde.
George Saunders, 1958 in Amarillo geboren, hat ein halbes Dutzend Bände mit Erzählungen veröffentlicht, die einen Ruf wie Donnerhall erzeugt haben – nicht zuletzt dank der Lobpreisungen der Kollegen. Schon David Foster Wallace hat Saunders gerühmt als „aufregendsten Schriftsteller Amerikas“. Altpostmodernist Thomas Pynchon zieht Nutzanwendungen aus seiner Prosa: „Er erzählt genau die Geschichten, die wir brauchen, um durch diese Zeiten zu kommen.“ Jonathan Franzen ist einfach dankbar: „Wir können froh sein, ihn zu haben.“ Und Joshua Ferris schafft mit Saunders den Durchbruch ins Metaphysische: „Er schreibt wie eine Art Heiliger. Er scheint mit einem besseren Wesen in Verbindung zu stehen.“
Diese Verbindung zum Metaphysischen gibt nun Saunders erstem Roman die ungewöhnliche Prägung. „Lincoln im Bardo“ wurde in den Vereinigten Staaten hymnisch gefeiert und mit dem internationalen Man-Booker-Preis 2017 ausgezeichnet. Ganz großer Meisterwerksalarm! Und wann hatten wir zuletzt einen Roman, der das Leben nach dem Tod ausfantasiert? Der „Bardo“ ist ein Zwischenreich zwischen Leben und Tod, in dem die Geister der Toten festhängen. Der Begriff entstammt dem Buddhismus; dort meint er den intermediären Zustand vor dem Übergang ins Nirwana oder ins nächste Leben.
Ein Höllenkreis voller Fratzen und Dämonen
Dass die Toten womöglich gar nicht wirklich tot sind – diese Vorstellung ist eine uralte Triebkraft von Religion und Literatur, auch wenn in unseren säkularen Zeiten der literarische Grenzverkehr mit dem Jenseits nur noch eingeschränkt stattfindet und das Leben nach dem Tod selbst für die eigentlich zuständigen Amtskirchen zur theologischen Verlegenheit geworden ist. Saunders, ein höchst formbewusster moderner Erzähler, macht sich ideell gewissermaßen zum Zeitgenossen von Dante. Sein „Bardo“ ist auch dies: ein Höllenkreis voller Fratzen und Dämonen.
Aber zunächst zur Hauptfigur unter den Lebenden – dem gramgebeugten Präsidenten Abraham Lincoln. Gerade ist sein elfjähriger Sohn Willie qualvoll am Typhus gestorben. Er wird an jenem kalten Februartag des Jahres 1862 beerdigt, an dem auch die neuen Listen mit Gefallenen der Schlacht von Fort Donelson erscheinen und zum Schrecken der Bevölkerung zeigen, wie der vor wenigen Monaten entflammte Bürgerkrieg plötzlich Tausende von Menschenleben verschlingt. Willie repräsentiert die hingeschlachtete Jugend. Denn der mit seiner schweren Verantwortung hadernde Präsident erfährt durch den Verlust des eigenen Sohnes, welche Leiden mit jedem toten Soldaten verbunden sind.
Ohne Sentimentalität vermittelt Saunders das Gefühl der Trauer
Es ist überliefert, dass Lincoln in den folgenden Nächten mehrfach auf den Friedhof zurückkehrte. Der Roman schildert, wie er Willies Sarg öffnet, den toten Jungen herausnimmt und schluchzend im Arm wiegt. Lincolns tiefe Trauer ist ein Ereignis, das die Geisterwelt aufrührt. Um den Präsidenten ist eine Aura der Empathie, in welche die Geister eintauchen wie in einen Jungbrunnen.
Grandios, wie Saunders ohne Sentimentalität die großen Gefühle der Trauer vermittelt. Das geschieht vor allem durch die raffinierte Montage zeitgenössischer Quellentexte: Berichte über Willie, aber auch über das bis zum Morgengrauen dauernde Fest im Weißen Haus, das die Lincolns gaben, während der Sohn starb – ein Anlass vieler gehässiger Kommentare. In den Zitat-Montagen geht es um Lincolns Qualitäten als Politiker und Vater, um die Angemessenheit seiner Trauer. Saunders arrangiert ein dissonantes Zusammenspiel, denn nicht einmal über das Wetter in der Nacht von Willies Sterben sind sich die Berichte einig: Alle denkbaren Mondformen und Mondfarben werden aufgeboten. Es ist ein mit dem Essig der Satire angerichteter Quellensalat, der sich anrührend und komisch zugleich liest.
Mit nicht weniger Hintersinn arrangiert der Erzähler die Stimmen der Friedhofsgeister: allesamt hadernde Existenzen, die vom Leben nicht lassen können. Und eine höhere moralische oder göttliche Instanz (die im Roman freilich eine Leerstelle bleibt) lässt offenbar ihrerseits nicht locker, verlangt Rechenschaft und Läuterung. Der Tod ist unter den Toten ein absolutes Tabu; keiner von ihnen nimmt dieses Wort in den Mund.
Die Särge bezeichnen sie euphemistisch als „Kranken-Kisten“ und vertrauen darauf, dass sie den Weg zurück ins Leben schon irgendwie finden werden. Unterdessen sehen sie aus wie Allegorien ihrer früheren Leiden und Verfehlungen. Der von einem Balken erschlagene Drucker Hans Vollmann, eine der drei Hauptfiguren im Bardo, muss wegen seines unerfüllt gebliebenen Begehrens zu seiner jungen Frau mit einem sperrigen Riesenphallus herumgeistern. Roger Bevins III, der Selbstmörder aus unerwiderter homosexueller Liebe, zählt die zu Lebzeiten ignorierten Schönheiten der Welt unermüdlich auf wie ein Hungriger mit sieben leeren Mägen den Wohlgeschmack und die Düfte unerreichbarer Speisen. Bevins’ Geist gleicht einem Sinnbild des Sinnengenusses: ein Gesicht, auf dem die Augen wie Trauben wachsen und dem mit jeder Vorstellung eines Duftes eine weitere Nase sprießt.
Keine Sünde ist je vergessen
Der Geist des Jägers Trevor Williams wiederum hockt vor dem Berg aller von ihm erlegten Tiere und muss jedes von ihnen durch „liebevolle Aufmerksamkeit“ versöhnen – ein riesiges Schuldkonto mutwillig verschuldeter Todesangst. Kurz: Der Bardo erinnert sehr an die metaphysische Sündensparkasse christlicher Provenienz, wo es für jede Verfehlung zu Lebzeiten die posthume Quittung gibt. Haben Jahrhunderte der Aufklärung daran gearbeitet, den Menschen die Angst vor dem Jenseits und den Höllenstrafen zu nehmen, so werden in diesem Roman die Rechnungsbücher wieder aufgemacht. In Saunders’ skurrilem Höllenkreis ist keine Sünde vergessen. Dem Purgatorium ähnelt der Bardo insofern als jeder, der so wahrhaft bereut wie zum Beispiel der Ehebrecher William Price schließlich im Knall einer „Materienlichtblüte“ vergehen wird.
Als Verfasser von Erzählungen hat Saunders eine große Meisterschaft darin entwickelt, die Perspektive eng an die Figuren zu binden und nicht in auktorialer Selbstermächtigung über sie hinwegzuschreiben. Diese subtile Technik der Bewusstseinsdarstellung kommt dem Roman sehr zugute. Das macht der Vergleich mit Robert Seethalers aktuellem Bestseller „Das Feld“ deutlich, der ebenfalls auf einem Friedhof spielt und die Toten reihum aus ihrem Leben erzählen lässt. Ein ganzer Mannschaftsbus voller Schicksale kommt so zusammen. Nur klingen sie in ihrer Lakonie alle ähnlich, als würde sich die archetypische Seethaler-Seele immer aufs Neue in anderer Gestalt emanieren.
Spirituelle Esoterik, sehr merkwürdig
Saunders gelingt dagegen ein gespenstischer Chor kontrastierender Stimmen: Vernachlässigte und Misshandelte, Schmeichler und Schurken. Da ist das unermüdliche fluchende und streitende White-Trash-Paar, das im Suff von einer Kutsche überfahren wurde. Da ist die junge Schwarze, die von der Liebe träumte und eine Gruppenvergewaltigung nicht überlebte. Da ist der Sklavenschinder, der die Schwarzen immer nur als „Stücke“ bezeichnet. Und der Professor, der sich immer noch eitel seiner Forschungen rühmt, auch wenn er sie komplett vergessen hat. Alle bekommen ihre ganz eigene Stimme.
Dass sich der Roman allerdings nicht so süffig lesen lässt wie Seethalers Friedhofsgeplauder, hat nicht mit seinem Montagecharakter zu tun: lauter kleine Absätze, oft auch nur Sätze oder Satzstummel, die für sich stehen, aber ein wohlkomponiertes Ganzes ergeben. Sondern mit der doch recht befremdlichen Handlung im Bardo. Es gibt dort ein dämonisches Gestrüpp, das Jagd macht auf die Seelen von Kindern. Den liebenswürdigen Willie diesen Dämonen zu entreißen, wird zur Mission der guten Geister. Um die Seele des Jungen zu retten, wollen sie noch einmal in den Körper des trauernden Lincoln hineinfahren und dort eine positive Energie entfesseln. So entsteht ein großes Geister-Gewusel im Präsidenten, eine „glückliche gemeinsame Massenbeseelung“ – spirituelle Esoterik, sehr merkwürdig.
„Alle litten, hatten gelitten oder würden bald leiden“, heißt es an einer Stelle. Bei aller formalen Raffinesse ist George Saunders ein Schriftsteller, der Mitleid und Empathie als Zauberkräfte der Literatur zur Wirkung bringen möchte. Mehr noch, er ist ein Moralist. Dass er sich zur Erhöhung der Durchschlagskraft hier eine ziemlich verschrobene moralische Weltordnung zurechtzimmert, daraus ergibt sich der fade Beigeschmack bei diesem außergewöhnlichen Werk, das man mit Staunen und Verwunderung und nicht ohne Anstrengung liest.
George Saunders: Lincoln im Bardo. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert. Luchterhand Verlag, München 2018. 448 Seiten, 25 €.
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