Meine Jahre mit Castorf & Co. (2): Der Seelenfänger
Bald ist es vorbei. Nach 25 Jahren verlässt Frank Castorf die Volksbühne. Eine Zeitenwende. Tagesspiegel-Kritiker verabschieden sich mit einer kleinen Serie.
Frank Castorf? Der ist ein messerscharfer Analytiker und rauschhafter Fantast. Ein Träumer und Trinker. Ein Lügenbeutel und Wahrsager, utopischer Kommunist und knallsmarter Kapitalist, ein diktatorischer Demokrat, ein dadaistischer Spaßmacher und antipsychologischer Seelenfänger. Ein Schweiger mit rasenden, hypnotischen Redeanfällen. Wenn ich ihn mir als Künstler vorstelle, dann nur als Gesamtkunstwerker: ohne rechte Fähigkeit oder linke Geduld zu einer einzelnen, spezifischen Kunst, außer der, Schauspieler zu verwegenstem Extremismus zu animieren, in den komischen, bestürzenden, naiv-raffinierten Wahnsinn (oder völligen Blödsinn) zu treiben.
Als Roman- oder Comicfigur wäre FC wahrscheinlich ein genial verrückter Wissenschaftler, ein absurder Experimentator, und sein Laboratorium ist nicht ganz zufällig das Theater geworden. Dort sind Menschenversuche erlaubt und werden recht gut bezahlt.
Nicht zufällig hat Frank Castorf als einen seiner Berliner Volksbühnenabschiede diesen langen Abend namens „Faust“ inszeniert. Steckt ein Faust und eine Menge Mephisto doch auch in ihm. So geht’s im Castorftheater mit höherem Segen am liebsten mit dem Teufel zu.
Den DDR-Behörden bis hin zur Stasi war er schon früh als Leibhaftiger erschienen, und dem westdeutschen Publikum ab 1989 mit einem sogenannten „Hamlet“ in Köln und einer „Miss Sara Sampson“ („von und nach Lessing“) am Bayerischen Staatsschauspiel in München gleich zweimal. Klassiker-Figuren, die im bürgerlichen Leben Henry Hübchen, Silvia Rieger oder Herbert Fritsch hießen, sie krochen gleich derangierten Gespenstern aus Umzugskisten und Schränken, onanierten auch mal zeitlupenhaft in Tempotaschentücher. Die Folge: Protest, Beifall, Skandal, Ruhm, Geld, Berliner Theatertreffen, endlich, nach den Anfängen und Austreibungen in Anklam, Gera oder Karl-Marx-Stadt alias Chemnitz, auch die großen Bühnen in Ost-Berlin, das Deutsche Theater, die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz.
Sein erster Streich in Berlin: "Das trunkene Schiff"
Es gärt in der noch existierenden DDR, in der FC einerseits bleiben will. Andererseits locken die großen West-Theater. Als ich im Herbst 1988, dem Gerücht namens „Castorf“ und „Jungem Wilden“ folgend, nach Frankfurt (Oder) reise zur Repertoirevorstellung seiner Inszenierung eines Heiner-Müller-Texts, „Wolokolamsker Chaussee“, da sind wohl neun Zuschauer im Saal, davon circa sechs bundesdeutsche, Schweizer, österreichische Dramaturgen, die Abgesandten der West-Intendanten. An viel mehr erinnere ich mich nicht. Alles irgendwie grau, wie die DDR-Grenzstadt mit ihren totenstillen Straßen. Nur auf der Bühne war’s laut und es gab westliche Rockmusik zum östlichen Müllerspiel.
Ein Mal danach, das war die erste richtige Verheißung und Verführung, ein Abend gleichfalls im Herbst 1988. Castorfs erster Streich in der Hauptstadt der späten DDR, sein Debüt auch an der Volksbühne, oben im 3. Stock: „Das trunkene Schiff“ des expressionistischen Dichters Paul Zech, 1926 uraufgeführt von Erwin Piscator im Bühnenbild von George Grosz an eben der Volksbühne, freilich im Großen Haus. Alfred Kerr mochte es nicht, sprach von „Trickhuberei“, nannte es „weglose Neusucht“.
Frank Castorf ging sogleich weg vom etwas schwülstig-inbrünstigen Text über den Junglyriker und späteren Waffenhändler in Afrika, Arthur Rimbaud; er benutzte indes Rimbauds gleichnamiges Titel-Gedicht und interessierte sich für Rimbauds homoerotische Beziehung zum älteren Dichterkollegen Paul Verlaine, die beiden gespielt von Axel Wandtke und Henry Hübchen, begleitet von Cornelia Schmaus und Castorfs damaliger Freundin Silvia Rieger. Bühnenbild Bert Neumann. Ich erinnere wiederum wenig Einzelheiten, aber eine zwischen Melancholie und Rausch wechselnde, schon leicht irre Energie. Dagegen sah der Brecht- Schüler Ernst Schumacher, Chefkritiker des „Neuen Deutschland“, ein „makabres, clownesk-parodistisches Traktat über die Aggressivitäten und Absurditäten homoerotischer Beziehungen und die endliche Heimfindung (sic!) Verlaines zu seiner Frau...“ Und: „Dafür verbraucht Regisseur Castorf zwei rohe Eier, eine Buddel Klaren, zwei Flaschen Sekt, Mehl aus der Tüte, einen mannsgroßen Papiersack, eine Schüssel nassen Lehm, ein Dutzend Porzellanteller – Requisiten aus der antiquierten modernistischen Trickkiste.“ Also keine Spur sozialistischer Realismus, auch sechs Jahrzehnte nach Piscator und Kerr lautet das Fazit: „weglose Neusucht“.
Aber der Neue mit seiner Suche nach dem Neuen oder – Dadaismus, Surrealismus, Expressionismus – vielleicht nur verschütteten Alten, er ist von da an mehr als nur ein Gerücht, in Ost und West. Auch Ivan Nagel sieht das „Trunkene Schiff“, ist nun gespannt auf jede Castorf-Inszenierung und wird nicht viel später in seinem berühmten Gutachten zu den Theatern im wiedervereinigten Berlin FC als Kopf der Volksbühne vorschlagen.
November 1989. Kurz vorm Mauerfall und Castorf noch zwischen zwei Staaten, zwei Welten und gerade auf dem Weg zum Star: Da sitzen Michael Merschmeier und ich beim ersten großen Interview mit ihm in der West-Berliner Redaktion von „Theater heute“ zusammen. Ein freundlicher Jeansträger, nicht mehr stone-washed, selbstbewusst eloquent, der eine „Vorliebe zu Ionesco und zu seiner Kritik an Brecht“ bekennt, auch zu Ionescos „Idee der kleinbürgerlichen Vernashornung aller nur an Macht und Besitz interessierter Gesellschaften“. Castorf würde gerne „die je für sich ziemlich ungeheuren und suspekten Welten des Westens und des Ostens eulenspiegelhaft miteinander verbinden“, sie „gleichsam austricksen, damit man selbst überlebt“.
Wie das gehen könnte, weiß FC auch nicht. Und seine Aufführungen? „Provokationsfelder“ und die „Montage von Attraktionen... Deshalb habe ich eine Sehnsucht nach dem Eklektizismus.“ Der ganze Castorf ist schon da. Ein einziges Mal wird er noch in einer – grandiosen – Inszenierung von Ibsens „Baumeister Solness“ (mit dem damals noch in zweiter Reihe stehenden Horst Lebinsky als Titelfigur) am Deutschen Theater zeigen, dass er einen Text auch psychologisch haarfein zum Leuchten bringen kann, ohne aktualisierende oder postdramatisch-dekonstruktive Eingriffe. Das Feuer, das Stücke versengt und aus der Asche ganz eigene Stoffe gebiert, das brennt dann freilich an der Volksbühne, bei den „Räubern“, beim „Lear“, der „Pension Schöller“ oder den Reisen durch Castorfs eigene Dostojewski-Sphären.
Der gewollte Etikettenschwindel
Damals, in der Wendezeit, die Frage, warum er überhaupt noch die Namen der Klassiker als Autoren über seine Aufführungen schreibt, warum nicht Castorf & Co. Da bekennt er sich freimütig zum „Etikettenschwindel“. Das gehöre zur Provokation, er fände es auch lustig, wenn Leute einen BMW kaufen und sich dann aufregen, weil der Motor eines Opel Kadett unter der Haube stecke. Zu „Hamlet“ kämen so eben mehr Leute als zu „Kraut und Rüben“, und er wolle ja Aufmerksamkeit, Aufregung, letztlich Erfolg: „Ich möchte nicht freie Gruppe spielen, ich möchte nicht in den Keller, in den Untergrund!“ Er wolle „in diese trainierten Staatstheaterbetriebe rein und die zusammen mit den Schauspielern von innen verändern“.
Das Theater, zumal unter dem hochgerüsteten Leistungsdruck deutscher Stadt- und Staatsbühnen, droht freilich immer auch eine Black Box zu sein. Es will zwar wahnsinnig viel mit der Welt draußen zu tun haben, mit Utopien, Revolutionen, Krisen, Katastrophen, mit den größten Klassikern und den tollsten Ausschweifungen. Aber schaut man in eines dieser Theater hinein, während der Arbeit am ersehnten Welt-Kunst-Wirklichkeitszusammenhang, dann steht an der Tür: „Achtung Probe!“ Kein Eintritt! Absolutes Ruhegebot. Als bei unserem Gespräch damals plötzlich ein Gewitter durchs offene Fenster fegt und ein Papierstapel aufs laufende Tonband fällt, findet das Castorf völlig okay. So etwas sei keine Störung, vielmehr Realität, Natur, wahres Leben. Wir haben leider vergessen, ihn damals zu fragen, ob bei seinen Proben auch Türen und Fenster offenstehen und die erwünschte Unruhe nicht nur von innen kommt.