Großes Opernereignis in Berlin: Der Schmerz bleibt
Verbeugung vor einem Meisterregisseur: Die Staatsoper zeigt Patrice Chéreaus letzte Inszenierung „Elektra“.
Den Ruf, der dieser Inszenierung vorauseilt, darf man getrost ehrfurchtsgebietend nennen. Im Sommer 2013 erlebte Patrice Chéreaus „Elektra“-Lesart ihre umjubelte Premiere beim Festival von Aix-en-Provence. Als dann der Herbst kam, starb der viel verehrte Regisseur, er hatte Krebs. Seine „Elektra“ aber hatte noch Verabredungen mit dem Theaterleben, tourte nach Mailand, New York, Helsinki und Barcelona. Jetzt ist sie dort zu sehen, wo die ersten Proben für Richard Strauss’ Antikenschocker stattfanden, der zum Vermächtnis eines großes Theatermannes geworden ist, in der Staatsoper im Schillertheater.
Hausherr Jürgen Flimm greift ganz ohne das vertraute Augenzwinkern zu großen Worten, wenn er vor der Berliner Premiere die Bühne betritt und Patrice Chéreau den „besten Regisseur der Welt“ nennt. „Alles, was wir können, alles, was wir wollen, legen wir ihm zu Füßen.“ Der hohe Ton einer Hommage ist angeschlagen, einer Messe gar, in den auch Daniel Barenboim einstimmt, der mit „Elektra“ nicht nur die Inszenierung, sondern auch den Geist Chéreaus beleben möchte.
Wo immer er sich auch aufhalten mag, er hat seine Sache gut gemacht, dieser Geist. Nicht, weil er wie von Zauberhand der Staatsoper eine rundum glücklich machende Inszenierung spendiert hat, sondern weil man sowohl die Anwesenheit als auch die Abwesenheit Chéreaus deutlich zu spüren vermag an diesem Abend. Um Verlust kreist er ohnehin, denn Elektra hat nicht nur ihren Vater Agamemnon verloren, der vom Liebhaber der Mutter im Bade mit der Axt erschlagen wurde. Sie hat auch ihre Unschuld eingebüßt, als der eifersüchtige Tote ihr „den hohläugigen Hass als Bräutigam“ ins Bett schickte, der seitdem ihre Nächte verheert. Ein Missbrauch, der auszehrt. Und der eine heillos erstarrte Gesellschaft zur Folge hat.
Zunächst aber reibt sich der Zuschauer ungläubig die Augen, denn das Einheitsbühnenbild von Chéreaus langjährigem Mitstreiter Richard Peduzzi ist derart lieblos ausgeleuchtet, dass die Dürftigkeit dieses Hinterhofs vor allem handwerklich bedingt wirkt. Bevor die Musik einsetzt, werden Treppenstufen lautstark gefegt, eine Geschäftigkeit, der die Verdichtung zum Ritual abgeht. So geschieht es noch in vielen Szenen, in denen das Gesinde Meter für Meter verschoben wird, ohne dabei auch die Geschichten sinnfällig zu machen, die wohl ein jeder am Hof von Mykene mit sich herumschleppt.
Barenboim dirigiert mitfühlend
Chéreau hatte sie sicher im Sinn, das verraten sowohl seine Besetzungsideen als auch die ausgedehnte Anwesenheit, die er den Nebenfiguren auf der Szene einräumt. Hier sind echte Charakterköpfe versammelt, mit dem 82-jährigen Donald McIntyre als altem Diener – McIntyre reckte einst Wotans Speer in Chéreaus Bayreuther „Jahrhundert-Ring“. Mit dem unfassbar präsenten Franz Mazura, 92, als Pfleger des Orest, Roberta Alexander, 67, als 5. Magd oder einer kugelrunden Cheryl Studer als Aufseherin. Eine Liebeserklärung an das Musiktheater und seine Darsteller, der zur wahren Erfüllung nur noch eine ordnende Hand fehlt.
Zwei Darstellerinnen gibt es jedoch, denen man sofort umfassend abnimmt, dass sie noch immer den Blick des Regisseurs auf sich ruhen fühlen, jenen Blick, dem vor allem die Details nicht entgehen. Und der aus ihrer Kenntnis heraus erzählen kann wie nur wenige andere: Evelyn Herlitzius und Waltraud Meier, Elektra und Klytämnestra, Tochter und Mutter. Die unbedingte Hingabe von Herlitzius erfährt ein dunkles Glühen, das ihre Elektra wirkungsvoll dem Dasein als hysterische Furie entreißt. Ohnehin ist es kaum fassbar, wie es dieser großen Sängerdarstellerin gelingt, bei Stimme zu bleiben. Oft spricht man ihr jegliche Schönheit ab, doch was heißt das schon, wenn gleichzeitig so vieles zum Schwingen gebracht wird. „Was die Wahrheit ist, das bringt kein Mensch heraus“, ist sich Klytämnestra sicher. Herlitzius kommt dieser Wahrheit schon sehr nahe.
Waltraud Meier wiederum gelingt das Kunststück, ganz Königin zu sein, und jeden dazu zu bringen, ihr zuzuhören, auch wenn ihr Mezzosopran an Tragfähigkeit eingebüßt hat. Leise und unentrinnbar, stolz und doch erschüttert ist diese Klytämnestra. Und gerade deshalb ganz Ohr für die beunruhigenden Untertöne, die aus dem tief nach unten gefahrenen Orchestergraben heraufdringen. Daniel Barenboim dirigiert so inspiriert wie lange nicht, es ist seine beste „Elektra“. Welches Dunkel weht durch die hellwache Staatskapelle, Schattenspiele jagen einander, Stimmen lösen sich wundersam aus dem dampfenden Gefüge. Viel Zärtlichkeit liegt darin, sie darf ebenso präsent sein wie das Rohe, gerade noch Herausgeschleuderte.
Mitfühlend ist Barenboims Dirigat auch deshalb, weil es sich an diesem Abend in besonderer Weise den Sängern verbunden fühlt, ihnen Schneisen schlägt und den Puls fühlt. Dabei zeigt sich die Staatskapelle immer bereit, den Klang nachzujustieren, zu verflüssigen, auszulichten.
So etwas hört man nicht alle Tage vom Chef dieses Orchesters, und dankbar ist man auch bereit, Patrice Chéreau für das empathische Pultpotenzial seines langjährigen Freundes mitverantwortlich zu machen. Wie man auch bereit ist, all das Unzulängliche an dieser „Elektra“ der Tatsache zuzuschreiben, dass ihr Schöpfer sie seit drei Jahren nicht mehr direkt beeinflussen kann. Denn das, was sich Chéreau gedacht haben muss, ist nicht robuster Natur, wie es dem Repertoiretheater eigen ist. Es ist etwas sehr Zerbrechliches. Der Regisseur will seinen Figuren den Panzer lösen, sich verabschieden von dem „dämonischen, ekstatischen Griechentum des 6. Jahrhunderts“, das den Librettisten Hugo von Hofmannsthal seinerzeit so faszinierte – als geschwungene Streitaxt gegen einen bildungssatten, allzu gemütlich gewordenen Klassizismus.
Patrice Chéreau lässt diese Stellvertreterkriege hinter sich, er ermöglicht uns, seinen Figuren ins Antlitz schauen. Es sind keine Monster, die wir dort ausmachen können, es sind zutiefst versehrte Menschen, die der Hass ganz für sich eingenommen hat. Ohne Aussicht darauf, dass sich daran etwas ändern wird. „Wer hat uns je geliebt?“, fragt Chrysothemis (etwas beengt: Adrianne Pieczonka) ihre Schwester Elektra, während diese im Rausch der rächenden Bluttat schwelgt, die sie selbst nicht hat vollbringen können über all die Jahre hinweg. Elektra hört sie nicht. Und Orest, der Bruder, zieht schweigend davon, weil es keinen Ort gibt, an dem man bleiben könnte. Nur die Erinnerung an die Stimme Michael Volles klingt nach in ihrer machtvollen Ohnmacht. „Wer hat uns je geliebt?“ Was soll man sagen: Chéreau fehlt.
Weitere Aufführungen am 26. und 29.10. sowie am 1. und 4.11., Restkarten
Ulrich Amling