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Poesie mit Plastiktüten. Szene aus „Wasteland“ mit Maria Chiara Mezzadri und Erik Johansson.
© Bengt Wanselius

Movimentos Festwochen in Wolfsburg: Der Müll, die Stadt und der Tanz

Am Freitag eröffnen in Wolfsburg die Movimentos Festwochen. Dort zeigt Göteborgs Operans Danskompani ihr Stück „Wasteland“. Eine Begegnung mit Tanzchefin Adolphe Binder, die das Ensemble zu internationalem Ruhm geführt hat.

Ein verlassener Ort, vielleicht eine Industrieruine. Der weißgekachelte Raum erinnert an die Waschkaue eines stillgelegten Bergwerks oder an ein Schlachthaus. Metallkörbe senken sich herab mit Plastikabfall oder anderen Überbleibseln der Wegwerfgesellschaft. Versprengte Existenzen besetzen den gespenstischen Ort, irren zwischen den verstreuten Abfällen herum, suchen verzweifelt nach etwas, woran man sich festhalten kann. Mit „Wasteland“ hat die norwegische Choreografin Ina Christel Johannessen Themen wie Werteverfall und Konsum zu einem ebenso packenden wie poetischen Tanzstück verarbeitet. Die Bühnenbildnerin Kristin Torp hat sich von Fotos der Gelsenkirchener Zeche Hugo inspirieren lassen. Weniger realer als symbolischer Ort ist der schäbige Bühnenraum, auch wenn Torp Plastiktüten aus der Umgebung aufgelesen hat. Die furiosen Aktionen der 14 Tänzer treibt das belgische Duo Stray Dogs an, das dunkle Cellotöne mit elektronischen Klängen verschmilzt.

Mit „Wasteland“ gastiert die Göteborgs Operans Danskompani bei den Movimentos-Festwochen, die am Freitag eröffnet werden. Bereits 2008 war die schwedische Tanzcompagnie mit drei kurzen Choreografien zu Ravels „Boléro“ ins VW-Kraftwerk eingeladen – damals noch als Göteborg Ballet. Der neue Name verweist auf den Wandel, den die Truppe zuletzt durchlaufen hat: aus einer renommierten neoklassischen Ballettcompagnie wurde eines der experimentierfreudigsten Ensembles zeitgenössischen Tanzes. Die Göteborger stehen für stilistische Vielfalt auf höchstem Niveau und ein klares Bekenntnis zu Zeitgenossenschaft und Internationalität. Sie sind die Speerspitze der Avantgarde unter den Tanzcompagnien, die an einem Opernhaus angesiedelt sind. Die derzeit spannendsten Choreografen kreieren Auftragswerke für das Ensemble, dem 38 Tänzer aus 18 Nationen angehören und das fast nur Originale präsentiert.

Adolphe Binder: Von einem Extrem ins andere

Eine geglückte Metamorphose. Die Frau, der sie zu verdanken ist, ist in Berlin bestens bekannt. Adolphe Binder, in Rumänien geboren und in Deutschland aufgewachsen, war Ballettdramaturgin an der Deutschen Oper Berlin und leitete drei Jahre das Berlin Ballett der Komischen Oper, das 2004 abgewickelt wurde. Seit 2011 ist sie Tanzchefin am Opernhaus Göteborg. Jetzt sitzt sie in der Kantine des Opernhauses, von der man auf den Göteborger Hafen blickt. „Hier kann es von einem Extrem ins andere gehen“, stellt sie fest. „Das macht es ja so spannend.“

Adolphe Binder.
Adolphe Binder.
© Mats Baecker

Wenn man sie auf ihre Berliner Zeit anspricht, hält sie kurz inne. „Das ist wahnsinnig lange her, so viel ist seither passiert.“ Aber natürlich sei es eine politische Entscheidung gewesen, das Ballett der Komischen Oper aufzulösen. „Man wollte eine große klassische Compagnie haben.“ Nach dem Berliner Debakel hat sie gründlich überlegt, ob sie das Angebot aus Göteborg annehmen solle und sich gesagt: „Wenn ich noch mal so einen Monsterjob, so ein großes Ensemble übernehme, muss es etwas sein, das ich auch mit meiner Vision verbinden kann.“ Diese Frau will etwas bewegen, das spürt man. Und sie will, dass ihre Compagnie für etwas steht. Um innerhalb eines großen Opernhauses eine Tanzcompagnie neuen Zuschnitts zu etablieren, so Binder, brauche es eine „Intention, die die anderen entflammt“. Ihr Enthusiasmus ist ansteckend. Sie hat es geschafft, die Neugier des Publikums zu wecken.

Die Göteborger Tänzer sind handgepflückt

Die Göteborger Tänzer haben meist großen Anteil am kreativen Prozess, das motiviert natürlich besonders. Drei Viertel von ihnen hat Binder selbst engagiert. „Sie sind handgepflückt“, sagt sie lächelnd. Wahrlich keine keine Tänzer von der Stange, die hier auftreten. Jeder nimmt durch seine Eigenart für sich ein. Von der Diversität des Ensembles, seiner Offenheit und kreativen Neugier, schwärmen auch die Choreografen. Zudem gelingt es den Tänzern, abstrakte Formensprachen mit leidenschaftlicher Expressivität aufzuladen.

Adolphe Binder liebt es, Projekte anzustoßen und sucht ständig den Dialog mit Künstlern

Adolphe Binder möchte „eine Plattform schaffen, um relevante Themen zu kommunizieren.“ Jede Saison widmet sie einem anderen Schwerpunkt. 2012/13 etwa „Homeland and Risk Zones“, dann „Mind & Spirit“ (2013/14), die aktuelle Spielzeit steht unter dem Motto „Wonderland“. Sie liebt es, Projekte anzustoßen und sucht ständig den Dialog mit den Künstlern. Ein Engagement, das sich auch darin zeigt, wie sie die Entstehung einer neuen Produktion begleitet. Am Anfang steht eine intensive Konzeptionsphase, lange bevor es ins Studio geht. Mit den Choreografen, die sie in dieser Saison eingeladen hat, spricht sie viel über das gesellschaftliche Unbewusste, über Schattenwelten. Ina Christel Johannessen, die Choreografin von „Wasteland“, gibt dem Thema „Wonderland“ einen anderen Dreh und erkundet die Kehrseite heutiger Konsum-Wunderwelten. „Ich versuche immer, Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten“, erklärt Johannessen. Sehr intensiv sei der Austausch mit Binder gewesen. „Sie hat mir freie Hand gelassen, wie ich das Thema umsetze“, sagt sie. „Aber die Diskussionen mit ihr waren hilfreich. Adolphe Binder ist eine Frau mit klaren Ansichten. Und die Tänzer sind fantastisch.“

Adolphe hat eine neue Arbeitsweise eingeführt

Maria Chiara Mezzadri hat für das Nederlands Dans Theater oder das Wiener Staatsballett getanzt. Seit 2013 ist sie bei der Göteborgs Operans Danskompani engagiert.„An den anderen Häusern war nie genug Zeit für den kreativen Prozess“, erzählt sie. „Adolphe hat eine neue Arbeitsweise eingeführt. Wir konzentrieren uns jeweils nur auf eine Kreation und bekommen so viel Zeit, wie nötig ist. Sie schafft die Bedingungen für Begegnungen – mit den Choreografen und auch mit den bildenden Künstlern und Musikern.“ Die Arbeit im Göteborger Ensemble sei sehr fordernd, so Mezzadri, aber auch bereichernd. „Mit jeder Kreation kann ich eine weitere Farbe hinzufügen.“

„Mich interessieren Künstler mit einer ganz eigenen Persönlichkeit und Ausdruckssprache“, betont Adolphe Binder. Sie schafft es, auch Choreografen anzulocken, die sonst nur für ihre eigenen Kompanien Stücke kreieren, die kompromissloses Arbeiten gewohnt sind. Neue Produktionen sind natürlich jedesmal ein Risiko. „Das muss man eingehen wollen“, sagt Binder. „Auf der sicheren Seite bist du nur, wenn du Repertoire-Stücke einkaufst.“ Doch bislang hat Binder ein gutes Händchen bewiesen. Als Berlinerin wird man neidisch wenn man sich das Defilee der Choreografen vor Augen führt.

Adolph Binders Verbindung zu Berlin ist übrigens nie abgerissen. Seit 2005 betreibt sie hier eine Produktions- und Beratungsfirma. 2012 hat sie mit Sasha Waltz kooperiert, um deren „noBody“ in Göteborg einzustudieren. Und für Herbst hat sie die Berliner Choreografin Constanza Macras mit einer Uraufführung betraut. Sie sei stolz auf ihr Ensemble, sagt sie. Und die Göteborgs Operans Danskompani ist wirklich eine Tanzkompanie mit einem besonderen „Spirit“. Die Vision, die Adolphe Binder in Berlin nicht realisieren konnte – in Göteborg ist sie Wirklichkeit geworden.

Die 13. Movimentos- Festwochen der Wolfsburger Autostadt (10.4. bis 17.5.) werden von der Sidney Dance Company mit der Europapremiere „2 One Another“ von Rafael Bonachela eröffnet. Vom 15. bis 17. April zeigt die Göteborgs Operans Danskompani „Wasteland“ der norwegischen Choreografin Ina Christel Johannessen. Die Kibbutz Contemporary Dance Company präsentiert als Weltpremiere „Why Bach?“, der Choreograf Rami Be'er setzt sich erstmals mit dem deutschen Komponisten auseinander (29. April bis 2. Mai). Neben Tanzproduktionen werden auch szenische Lesungen mit prominenten Schauspielerin sowie Klassik- und Jazz-Konzerte mit Natalie Cole und Lizz Wright angeboten. Das komplette Programm finden sich im Netz: www.movimentos.de

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