zum Hauptinhalt
Wanderer zwischen abgründigen Welten. Haruki Murakami.
© Markus Tedeskino/Agentur Focus

Neuer Roman von Haruki Murakami: Der Maler im Geisterhaus

Der glänzende Geschichtenfinder Haruki Murakami spielt im ersten Band seiner „Ermordung des Commendatore“ wieder mit Magie.

Vor den ersten 32 Kapiteln von Haruki Murakamis neuem, zweibändigem Roman „Die Ermordung des Commendatore“ gibt es einen kurzen „Prolog“. In ihm erwacht der Erzähler nach einem Mittagsschläfchen und sieht sich auf seinem Sofa einer groß gewachsenen Gestalt in dunklem Mantel mit einem breitkrempigen Hut gegenüber. Der Unbekannte erscheint ihm als „Mann ohne Gesicht“, und dieser verkündet knapp: „Ich will, dass du mich porträtierst.“

Eine Seite später heißt es: „Er nahm seinen schwarzen Hut ab, der sein Gesicht zur Hälfte verdeckt hatte. Dort, wo es hätte sein sollen, kreiste nur langsam ein milchiger Nebel.“ Man glaubt sich von Murakami so in die Welt eines Harry Potter versetzt, in welcher der „Dark Lord“ zunächst auch nur als gesichtsloses Gespinst erschien. Der Erzähler, seinerseits, wie oft bei Murakami, namenlos, eher ziellos und Mitte 30, ist ein offenbar begabter Porträtmaler. Doch bei dem Auftrag bittet er um eine Frist. Wie beim Teufel oder lieben Gott, wenn der als Tod an die Tür klopft. „Vielleicht würde es mir eines Tages gelingen, das Nichts zu porträtieren. Ebenso wie es einem gewissen Maler gelungen war, das Bild mit dem Titel Die Ermordung des Commendatore zu malen. Doch dazu brauchte ich Zeit. Ich musste die Zeit zu meinem Verbündeten machen.“

Ende des Prologs. Und natürlich hat der japanische Romancier seine weltweit Millionen Leser damit sogleich wieder am Haken. Auf den ersten drei Seiten klingt bereits fast alles an, was zur Murakami-Methode gehört. Ein Atmosphäre aus Mystery und Magie, in der Realismus und Märchenhaftes sich wie selbstverständlich vermischen. Der Erzähler sagt, er wisse, dass er die Begegnung mit dem Mann ohne Gesicht nicht geträumt habe: „Denn andernfalls wäre die ganze Welt, in der ich lebte, ein Traum gewesen.“

Seit Jahren als Kandidat für den Nobelpreis gehandelt

Natürlich kommen auch bei der „Ermordung des Commendatore“ alsbald noch die unverzichtbar murakamischen Ingredienzen hinzu: das Dahintreiben des männlichen Helden durch japanische Städte und Landschaften, Barbesuche, Hotels und Motels, wechselnde Wohnungen, untermalt von genau benannten Musiktiteln, CD- und Schallplattenaufnahmen. Das Spektrum reicht hier von Mozart, Schubert und Richard Strauss bis Thelonious Monk; und obwohl sich der Erzähler nicht für Wagentypen interessiert, werden viele Fahrzeuge, vom Jaguar über einen Peugeot 205 bis zum Toyota Prius, genau notiert. Gleiches gilt für den Sex.

Obschon sich der namenlose Erzähler auch auf diesem Gebiet für eher wenig erfahren erklärt, hat er reichlich Gelegenheit, seine Erlebnisse in häuslichen Betten, auf Autositzen oder in den in Japan beliebten „Love Hotels“ zu schildern. Ausführlich lesen wir von seiner Angst vor „großen Brüsten“, aber zum Glück haben seine Partnerinnen meist die passenden Maße, „weder besonders groß noch besonders klein“. Gerade in den Sexszenen wechseln Banalitäten, feuchte Stellen und trockene Verstiegenheit: „Wir vollzogen den Akt offen und unverfälscht, und diese Unverfälschtheit erreichte eine beinahe abstrakte Ebene ...“

Früher wurden Murakamis Romane noch aus englischen Übersetzungen ins Deutsche übertragen. Seit etlichen Jahren nun gilt die renommierte Japanistin Ursula Gräfe als Murakamis möglichst authentische deutsche Stimme. Und in jedem Fall ist der soeben 69 gewordene, Jahr für Jahr als Nobelpreiskandidat gehandelte Murakami einer der glänzendsten Geschichtenerfinder der Gegenwart.

Die inhaltliche Komposition domininert

Als Stilist indes bleibt er weiterhin schwankend. Es gibt schöne Stellen: Eine Eule wirkt da „weniger wie ein Vogel als vielmehr wie eine geflügelte Katze“; oder jemand enthüllt ein altes Kunstwerk so vorsichtig aus Packpapier, als würde er „den Verband eines Menschen mit schweren Brandverletzungen lösen“. Daneben aber stehen Redundanzen (jemand wird „hingerichtet“ und „mundtot“ gemacht), Floskelhaftes oder Schiefes: „Dieses emotionale Hin und Her hinterließ viele schmerzhafte Wunden auf meiner Haut.“

Auch diesmal dominiert die inhaltliche Komposition. Der von seiner Frau nach sechs Ehejahren plötzlich verlassene Erzähler (ein typisches Murakami-Motiv) zieht nach einigen Monaten on the Road auf Vermittlung eines Freundes aus Kunsthochschultagen in ein einsames Haus in den Bergen südwestlich von Tokio und Yokohama. Seinen Job als gut bezahlter, konventioneller Porträtauftragsmaler hat er bei einer Künstleragentur gekündigt, er lebt von Ersparnissen und gelegentlichen Malkursen in einer nahe gelegenen Stadt. Mit zwei verheirateten Frauen, die dort bei ihm Unterricht nehmen, hat er ein Verhältnis, bleibt jedoch zurückgezogen – und meditiert über ein auf dem Dachboden des Hauses entdecktes Gemälde, an dessen Packpapierhülle offenbar der Titel des Bildes hängt: „Die Ermordung des Commendatore“. Das Bild in traditioneller, an altjapanische Tusch- und Aquarellzeichnungen erinnernder Nihonga-Technik stammt von Tomohika Amada, dem Vorbesitzer des Hauses, einem berühmten Nihonga-Meister und Vater des erwähnten Schulfreundes.

Von dem Gemälde wussten der Sohn und die Sammler des Meisters bisher nichts. Es zeigt in der Manier des 19. Jahrhunderts einen vom Schwert eines jüngeren Mannes durchbohrten älteren Würdenträger, dazu eine entsetzte Frau, weitere Figuren und am Rand einen rätselhaften, aus einer Luke im Erdboden ragenden Beobachter. Erste Entschlüsselungsversuche weisen auf Mozarts „Don Giovanni“. Es könnte sich, abgesehen von einigen Ungereimtheiten, um eine Anspielung auf den Anfang der Oper handeln, bei dem Don Giovanni Donna Annas Vater, den „Komtur“ (in der italienischen Urfassung „Commendatore“), ersticht.

Im April erscheint der zweite Teil auf Deutsch

Doch als ein Nachbar des Erzählers, der geheimnisvoll reiche Herr Menshiki, die Szene betritt, der ähnlich wie der Mann ohne Gesicht vom Erzähler unbedingt porträtiert werden möchte und dafür ein fantastisches Honorar bietet, wendet und weitet sich alles. Geister erscheinen, die hier als wahre, der Realwelt ebenbürtige „Ideen“ gelten, es geht um Unterwelten, Höhlen wie bei „Alice im Wunderland“, und die mit zwölf Jahren verstorbene Schwester des Erzählers spielt als Erinnerung eine ganz gegenwärtige Rolle. Sie könnte ihre Wiedergängerin in einer vermuteten gleichaltrigen Tochter von Menshiki finden.

Vor allem aber verfügt jener weißhaarige Herr Menshiki, dessen Name wörtlich übersetzt „Farbe vermeiden“ bedeutet – was ein bisschen an Murakamis Meisterwerk „Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“ gemahnt –, über Informationen zum Vorleben des Malers Tomohika Amada. Dieser hatte zur Zeit des „Anschlusses“ Österreichs an Nazi-Deutschland vor jetzt 80 Jahren ein Auslandsstudium in Wien verbracht und soll in das Attentat einer Widerstandsgruppe gegen einen NS-Bonzen verwickelt gewesen sein. Um diplomatische Komplikationen zwischen den damaligen Achsenmächten Deutschland und Japan zu vermeiden, sei alles vertuscht und Amada via Bremen per Schiff nach Japan abgeschoben worden. Danach erst habe Amada sein Leben völlig geändert, habe seinen westlichen Malstil aufgegeben und sich in jenes Berghaus zurückgezogen – das symbolischerweise eine Wetterscheide markiert. Während die Rückseite des Hauses oft im Nebel liegt, scheint vorne auf der Terrasse die Sonne. Womöglich ist der Commendatore auf dem Bild der Wiener NS-Mann, und ganz am Ende dieses ersten Romanbandes (mit dem Untertitel „Eine Idee erscheint“) tauchen auch Verweise auf das österreichische Konzentrationslager Mauthausen auf. Man kann da manches ahnen und weiß es doch noch nicht.

Die Wendungen, Pointen, das motivische Netzwerk Murakamis sind schon jetzt, über alle stilistischen Einwände hinweg, spannend, bewundernswert. Worauf das alles hinausläuft, lässt sich freilich erst Mitte April beurteilen, wenn der zweite Teil auf Deutsch erscheint.

Haruki Murakami: Die Ermordung des Commendatore. Band 1: Eine Idee erscheint. Roman. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Dumont, Köln 2018. 480 Seiten, 26 €.

Zur Startseite