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Ungar mit Passion für asiatische Denkräume. László Krasznahorkai.
© EPA/Gyula Czimbal/dpa

László Krasznahorkai in Japan: Der Kyoto-Effekt

Weltliteratur aus Ungarn: László Krasznahorkai sucht in Japan nach dem Moment vollkommener Schönheit. Menschen haben in seiner Erzählung "Im Norden ein Berg" nichts verloren.

Wie ein Buch aussehen würde, das alles, wirklich alles Wissen dieser Welt enthält, darüber zerbricht sich niemand mehr den Kopf. Seit den Tagen der französischen Enzyklopädisten ist Vollständigkeit der letzte Traum, den sich ein vernünftiger Mensch erlauben dürfte - ob philosophisch-aufklärerisch wie bei Diderot und d'Alembert oder faktenstarrend lexikalisch. Selbst die Vermessensten bilden sich nicht ein, dass die 32 Bände der gedruckten "Encyclopaedia Britannica" etwas anderes als eine Vorarbeit zu den Tausenden und Abertausenden, mit Mil liarden von Querverweisen gespickten Bänden wären, die das Netz des menschlichen Wissens am Ende auch nicht stopfen würden - fern jener unerreichbaren Grenze, an der Buch und Welt zur Deckung kommen. Schon die konkurrierenden, ja einander ausschließenden Erkenntnisse, die solch ein Werk dokumentieren müsste, würden einen in den Wahnsinn treiben. Und wohin mit all den wüsten Geschichten, Märchen, Mythen und Glaubenskonstruktionen, ohne die es ein lächerliches Fragment bliebe?

Nicht weniger aussichtslos scheint es zu sein, den Reichtum der Erscheinungen mit Hilfe einer Weltformel auf ein kontrollierbares Maß zu reduzieren. Nur Stephen Hawking hat offenbar noch den Ehrgeiz, Werner Heisenbergs hybrides Unterfangen zu beerben. Unvermindert lebendig aber ist der Wunsch, in einem Gedicht, einer Zeichnung oder einem Stück Musik wenigstens einen Funken Ewigkeit zu erhaschen: eine Erkenntnis aufblitzen zu sehen, die etwas von der Idee hinter den Phänomenen spiegelt - falls das platonische Bild die Sache trifft. Jedenfalls finden sich zu allen Zeiten Geister, die darauf vertrauen, dass sich, wenngleich nur für den Bruchteil einer Sekunde, die Welt in einer künstlerischen Nussschale auf den Fingerspitzen balancieren lässt - und dann vielleicht nie wieder.

 Zwischen Haiku und Enzyklopädie

"Zweimal hat ihn niemand gesehen", heißt das Motto von László Krasznahorkais neuem Buch, und der Moment vollkommener Schönheit, dem er darin auf der Spur ist, wird in einem Text entfaltet, der sich irgendwo zwischen Haiku und Enzyklopädie bewegt. Denn "Im Norden ein Berg, im Süden ein See, im Westen Wege, im Osten ein Fluss" ist der paradoxe Versuch, sich einerseits das Sprechen und Schreiben zu verbieten, andererseits ein Prosadenkgebirge aufzutürmen, in dem er, kategorisiert nach den Disziplinen der abendländischen Philosophie, unter anderem die Bereiche der Ontologie und der Ästhetik abhandelt, eine kleine Kosmologie entwirft, eine Widerlegung der Unendlichkeit formuliert, die Geheimnisse vormoderner Papierherstellung lüftet, Luft- und Gesteinsschichten analysiert, japanische Tempel- und Gartenkunde treibt - und nebenbei eine Einführung in den Buddhismus gibt. Wer sich fragt, wie all das um Himmelswillen in ein Buch von 150 Seiten passt, wird als erste Sparmaßnahme darauf stoßen, dass Krasznahorkai gegenüber früheren Romanen ganz auf das Vorkommen von Menschen verzichtet hat.

Vom Stoff her ist "Im Norden ein Berg" ein Buch ausschließlich über Landschaft und Natur. László Krasznahorkai, 1954 in Gyula geboren, heute in dem Bergdorf Pilisszentlászló nördlich von Budapest zu Hause und seit Jahren ein leidenschaftlicher Asienreisender, hat sich damit weit aus allen erkennbaren ungarischen Zusammenhängen herauskatapultiert. Sein Schauplatz ist Kyoto, der literarische Meister, dem er unausgesprochen huldigt, der Argentinier Jorge Luis Borges. Seinen eigenen Denkrahmen hat er allerdings nur erweitert - und das nicht überraschend. "Im Norden ein Berg" ist also keine spirituelle Wende, sondern die notwendige Ergänzung zu den lichtlos verregneten Apokalypsen seiner frühen Bücher: in gewisser Weise das Gegenstück zu seinem Romandebüt "Satanstango", mit dem er sich 1985 neben Péter Esterházy und Péter Nádas auf einen Schlag als einer der größten ungarischen Schriftsteller seiner Generation etablierte. Es zeigt, dass sich über den Barbareien einer gottlos feindlichen Menschenwelt, aber unterhalb einer jenseitigen Erlösung ein Trost erhebt.

Wenn das damals stark theologisch infiziert klang, so hatten die Begriffe, mit denen Krasznahorkai operierte, doch jede reale Bedeutung verloren. Sie waren für ihn die Krücken, auf denen er durch das menschliche Jammertal humpelte. Wenn es jetzt nach Räucherstäbchen zu riechen scheint, so hat Krasznahorkais Buddhismus mit billiger Esoterik doch nichts zu tun. Anders als die großen Monotheismen und im Gegensatz zur polytheistischen Folklore, die sich um manche Formen des Buddhismus rankt, darf man seinen philosophischen Buddhismus sogar nur bedingt als Religion betrachten. Wenn "der ganze zerbrechliche, schmetterlingsleichte Glaube, es gebe doch göttliche und ideale Höhen über der höllischen Vision der menschlichen Tiefebene", den er zum Schluss seines chinesisch-mongolischen Expeditionsberichts "Der Gefangene von Urga" (1992) enttäuscht sah, nun Erfüllung gefunden hat, hat das nicht einmal mit Metaphysik zu tun. Die Gewissheit, dass "Empathie und Mitleid, Schonung und Wohlwollen, Takt und Demut, Erhebung und Berufung zur Größe auf der Welt einen Ort" haben, gehört nicht in eine von der "Geschichte der Niedertracht" abgetrennte Sphäre. Sie gehört zu der wie eine Binse anmutende, in Wahrheit aber keineswegs selbstverständlichen Erkenntnis, "dass es nur das Ganze gibt und keine Teile".

 Wo versteckt sich das erste Kapitel?

"Im Norden ein Berg" beginnt mit der Einfahrt eines Zuges. Das heißt: Das Buch beginnt nicht wirklich damit. Eine römische Zwei steht über dem Kapitel. Wo versteckt sich das erste? Der eigentliche Anfang, lässt sich daraus nur schließen, muss jenseits des Buches liegen. Krasznahorkai liebt solche Überschreitungen. Sein letzter Roman (in der vollständigen Fassung zu lesen unter www.krasznahorkai.hu) endete außerhalb der Buchdeckel. Eine im schweizerischen Schaffhausen angebrachte Tafel teilt mit: "Hier tötete sich mit seinem Revolver der Held des Romans ‚Krieg und Krieg’ von László Krasznahorkai, György Korim, der suchte, aber nicht fand, was er den Ausweg nannte."

Doch was zuletzt noch eine ironische Schlagseite hatte, führt hier tief hinein in Krasznahorkais zirkuläres Denken, das eine Beginnlosigkeit postuliert, wie sie auch Botho Strauß in seinem gleichnamigen Essay vorgeschwebt haben mag. Der Zug der Keihan-Linie, der in einen Vorort von Kyoto einfährt, ist letztlich nicht wirklicher als die fantastische Vielfalt der Winde, die durch das Buch wehen: "Ihr Sein spielte sich im Reich reiner Mittelbarkeit ab, denn sie waren mit den Händen zu greifen und doch nicht zu fassen, denn sie waren gegenwärtig und doch unerreichbar, denn sie waren das Sein selbst und waren vom Sein doch ausgeschlossen, beziehungsweise sie kamen so nahe ans Sein heran, dass sie mit ihm identisch wurden, und das Sein ist nie sichtbar."

Mit dem Protagonisten - wie soll es in einem menschenlosen Buch einen solchen geben - verhält es sich noch komplizierter. "Der Enkel des Prinzen Genji", der vom Bahnhof aus hoch in die Berge spaziert, ist ein reines Schemen: Kamera auge und Bewusstseinsblase, eine Instanz ohne physische Eigenschaften. Er taugt also nicht als ernst zu nehmender Nachfahr des Prinzen Genji, jener literarischen Figur aus dem 11. Jahrhundert, dem die Hofdame Shikibu Murasaki die bewegtesten Abenteuer des alten Japan andichtete. Krasznahorkai erschleicht sich so eine glaubhafte Erzählperspektive - und unterminiert sie wenig später. Denn so suggestiv die Ankunft des Enkels geschildert wird, so nachdrücklich wird sie in Frage gestellt.

Während der Leser sich im Raum voranbewegt und längst in dem Kloster angelangt ist, dessen Anlage in allen Einzelheiten als Inbegriff einer Baukunst beschrieben wird, in der Nachahmung der Natur und Inszenierung einer gleichrangigen Realität miteinander verschmelzen, läuft für die Erzählung auf einer zweiten Ebene die Zeit rückwärts: Die Ankunft des Zuges verschiebt sich immer weiter in die Vergangenheit. Weshalb der Enkel weiter durch die Seiten dieses Buches geistern kann, zusammen mit einer ebenso geisterhaften Eskorte, die vergeblich nach ihm Ausschau hält, bis sich am Ende die Fiktion selbst in der von ihr geschaffenen Umgebung nicht mehr zurechtfindet, der Enkel herumirrt und im letzten der 49 Kapitel der Zug zurück nach Kyoto fährt, die Türen sich öffnen und niemand einsteigt.

Ein Spiel der wechselseitigen Aufhebungen

Suche nach dem Moment, in dem die Welt stillsteht. László Krasznahorkai.
Suche nach dem Moment, in dem die Welt stillsteht. László Krasznahorkai.
© EPA/Gyula Czimbal/dpa

Krasznahorkai treibt ein permanentes Spiel der wechselseitigen Aufhebungen, des Jetzt und des Nicht-Jetzt, des Da und des Nicht-Da. Man könnte es - in der Terminologie des Zen - als Verkettung von Koans beschreiben, jener rational unlösbaren, zur instantanen Erleuchtung dienenden Denkaufgaben, deren berühmteste in der Anweisung besteht, in beide Hände zu klatschen und auf den Ton der einen zu hören. Doch Krasznahorkai scheut jeden Begriff, der das Unvertraute vertrauter machen würde.

 Das Einfache und das Komplexe

Alles ereignet sich in den labyrinthischen, Nebensatz um Nebensatz aufeinander schichtenden Sprachschluchten die seit jeher seinen Stil prägen: unerschütterlich geschlossenen Satzreihen, die, wie es einmal über die Klostermauern heißt, nicht nur der Kennzeichnung eines riesigen Grundstücks dienen, sondern auch sagen wollen: "Das ist keine Umzäunung, sondern das innere Maß von etwas, dessen Erscheinungsform als Mauer den Ankömmling bloß warnen soll: dass er bald andere Maßeinheiten brauchen wird als solche, die er gewöhnt ist, und dass andere Proportionen als solche, die bisher sein Leben einschlossen, bestimmend sein werden."

Hinter dieser Mauer aber erschließt sich, warum mit solch "unendlich komplexen Kräften das unendlich Einfache" ausgedrückt wird: weil jeder Satz das Unaussprechliche eben nur umkreisen kann. Und wenn der Mensch nur in Gestalt eines hintergründigen Leitmotivs als fernes "Fest oder Unheil" durch das Buch treibt, liegt es daran, dass er "zum auserwählten Subjekt von Fragen" wird, "in denen der Bezug zum Menschen nicht mehr" aufscheint. Da ist man immer noch in Japan und bei Krasznahorkai. Man könnte sich aber auch bei Plotin und dem Einen, Seienden in Griechenland befinden, bei Lao-Tse und dem chinesischen Taoismus, bei Meister Eckehart, dem abtrünnigen Dominikaner, oder in der arabischen Welt bei Averroes. Krasznahorkais Entwurf lässt sich - ohne die Differenzen zwischen den einzelnen Denkern verwischen zu wollen - in viele Sprachen übersetzen.

Ganz sicher aber ist die augenzwinkernde Scholastik von Jorge Luis Borges im Spiel. Die "heillose Geschichte der Niedertracht", von der ein trauriger Buddha den Kopf abwendet, um nicht "diese miese Welt" fixieren zu müssen, kokettiert mit Borges’ Erzählungszyklus "Historia universal de la infamia" von 1935. Die beiden erfundenen Bücher, denen jeweils ein Kapitel gilt, der 2000-Seiten-Wälzer "Das Unendliche, ein Irrtum"aus der Feder eines gewissen Sir Wilford Stanley Gilmore, und "Hundert schöne Gärten", ein Werk apokryphen Ursprungs, sind Tribute an die Bibliothekarsfantasie des blinden Argentiniers. Die Motive, die dabei zitiert werden, sind es ohnehin: die Unendlichkeit, die hier, das Paradox des Zenon von Elea von der unendlichen Teilbarkeit einer endlichen Strecke unter Bezug auf Georg Cantors mathematische Theorien neu fassend, unter wilden Beschimpfungen verabschiedet wird. Oder der verborgene Garten, "ein Moosteppich mit acht Hinokizypressen", der mit "unermesslicher und unsichtbarer, aber nicht unendlicher Arbeit von Jahrmillionen" den Augenblick vollkommener Schönheit hervorbringt, der den Enkel des Prinzen Genji schaudern lässt: Man denke nur an Borges’ Geschichte "Der Garten der Pfade, die sich verzweigen".

Der ideelle Zusammenhang, in dem Krasznahorkais Werk sonst steht, entfaltet sich allerdings längst jenseits konkreter Bezüge. "Im Norden ein Berg, im Süden ein See, im Westen Wege, im Osten ein Fluss" - der Titel nennt "die große Vorschrift" für den Standort eines Klosters " - gehört in eine Reihe mit Yves Bonnefoys dichterischen Diesseitsfeiern und W.G. Sebalds Landschaftswanderungen mit archäologischem Blick. Und es gesellt sich zu Peter Handkes nunc stans-Erfahrungen, wie sie exemplarisch in der "Lehre der Sainte-Victoire" festgehalten sind: Auch bei Krasznahorkai steht einen Moment lang die Welt still - "damit der folgende Moment komme". Das Wunder der Schöpfung, so zeigt dieses Buch jenseits von allem missionarischen Pathos, ereignet sich jede Sekunde neu.

Deshalb kann "Im Norden ein Berg" auch nicht ganz auf Kreatürliches verzichten. Es treten auf im Kreislauf des Werdens und Vergehens: Ameisen, Holzwürmer, ein Singvogel, ein sterbender Hund, ein Rattenjunges, ein tollwütiger Fuchs, eine Ratte und 13 tote Goldfische. Sie tragen Würde (und Schmerz) stellvertretend für alle Lebewesen. Der Rest ist Baum- und Pflanzenwelt. Ein Stück nachgeholter literarischer Gerechtigkeit für einen Teil der Schöpfung, den er in dem Miklós Mészöly entliehenen Motto seines Romans "Krieg und Krieg" nur beschworen hatte: "Wenn die Blumen Flügel hätten, würden sie beim Nahen der Menschen fliehen."

 Das Unbewegliche wird fließend

Das Gegenteil von Poesie ist Rhetorik, und Krasznahorkai war nie ganz frei davon, seine Mammutsätze über Gebühr aufzublähen, sich selbst noch einmal ins Wort zu fallen, einen Gedanken am Ende einer Kadenz noch einmal hochzureißen. Doch in seinem jüngsten Buch hat das zuweilen Undurchdringlich-Unbewegliche seiner Prosa etwas Transparentes, Fließendes bekommen, das sie auf eine neue Stufe hebt. Daran hat auch die Übersetzung von Christina Viragh wesentlichen Anteil. Auch die zweite Gefahr, die bei Krasznahorkai manchmal durchschimmerte, ist gebannt: ein konservativ-kulturkritisches Ressentiment, das dem elementaren Pessimismus seines Blicks auf die menschliche Friedfertigkeit einen Teil seiner Wut und Verzweiflung nahm.

Nur wie László Krasznahorkais japanische Erleuchtung zurück nach Osteuropa, nach Ungarn, in die Provinz des gewöhnlichen Menschen finden soll, ist eine offene Angelegenheit - weniger für ihn persönlich als für ein Programm, das Spiritualität und ein klares Bewusstseins des postsozialistischen Elends zu verbinden wüsste. Es ist daher gut zu wissen, dass er bereits an einer Verknüpfung der Sphären arbeitet. Denn auch die Universalität seiner Literatur muss sich lokal bewähren.

"Im Norden ein Berg" erfordert Akklimatisierung, Versenkung, Geduld - und mindestens eine zweite oder dritte Lektüre. Wer es eiliger hat, muss mit Unverständnis rechnen. Der Leser aber, der die nötige Zeit investiert, wird mit einem Leseerlebnis belohnt, das nachdrücklich daran erinnert, was Literatur, was Weltliteratur sein kann. Und es könnte passieren, dass er, nachdem er sich mit seiner ganzen Aufmerksamkeit durch das Unterholz dieses Buches geschlagen hat, auf einmal im Offenen steht. Das Buch liegt hinter ihm. Er braucht es nicht mehr. Er hat selbst zu sehen gelernt.

László Krasznahorkai: Im Norden ein Berg, im Süden ein See, im Westen Wege, im Osten ein Fluss. Roman. Aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Ammann Verlag, Zürich 2005. 154 S., 18,90 €.

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