Neuköllner Oper: "Der Schuss": Der Knacks im System
Die Neuköllner Oper widmet dem Tod von Benno Ohnesorg ein Musiktheaterstück. Ein Probenbesuch bei „Der Schuss“.
Die Welt ist weiß, ein unbeschriebenes Blatt, eine Projektionsfläche. Seitenwände, Bühnenboden und die durchbrochene Wand, die die Darsteller von den Musikern trennt, alles ein einziger White Cube. Doch so bleibt es nicht. Videobilder, Originaltöne – Freitagabend, bei der Uraufführung von „Der Schuss“, wird all das eingespielt. Sie findet genau 50 Jahre nach dem Tod des Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 statt.
Doch noch wird in der Neuköllner Oper geprobt. Noch sind die Bilder Fragment. Der brutale Polizeieinsatz gegen die vor der Deutschen Oper in Berlin beim Besuch des autoritären Schah von Persien demonstrierenden Studenten. Die davon befeuerte 68er-Bewegung. Und die sich dadurch legitimiert fühlenden linken Extremisten der Bewegung 2. Juni und der Roten Armee Fraktion. Das alles ist nicht nur Geschichte, sondern längst auch Teil der Popkultur. In Artikeln, Büchern, Filmen und ikonografischen Fotos – wie dem des am Boden liegenden Ohnesorg oder den nackten Hinterteilen der Kommune 1 – wieder und wieder reproduziert.
Da tun weiße Wände, da tut das Zurücksetzen der Erinnerung gut. Zumal das Musiktheaterstück von Arash Safaian und Bernhard Glocksin keine Nacherzählung des folgenschweren Juni-Abends betreibt. „Der Schuss“ ist weder Agitprop-Show noch Dokumentartheater oder durchkomponierte Oper, sondern ein Traumspiel, in dem sich dialogische und gesungene Passagen abwechseln.
Bürger lasst das Gaffen sein. Kommt herunter, reiht euch ein
In der Eingangsszene, die Regisseur Fabian Gerhardt gerade proben lässt, dominiert die Musik. Für die Umsetzung seiner detailreichen, zeitgenössischen Komposition hat Arash Safaian das Ensemble Adapter, eine Neue-Musik-Formation aus Berlin, gewonnen. Um deren Kernquartett aus Flöte, Klarinette, Harfe und Schlagwerk gruppieren sich E-Gitarre, Klavier/Synthesizer und Kontrabass. Bei dieser Besetzung ist von klassischen romantischen Motiven bis zu harten Rockriffs allerlei möglich. Im Augenblick erklingt gerade Letzteres.
„Bürger lasst das Gaffen sein. Kommt herunter, reiht euch ein!“ Das fünfköpfige Gesangsensemble intoniert die Schlachtrufe der Revolte in frontal zum Saal ausgerichteter Opernchor-Formation. Doch der mit Megafon aufgeraute Sound scheppert schmutzig. „Keine Mark und keinen Mann für den Krieg in Vietnam!“, legen die Sängerinnen und Sänger noch eine Parole nach, um dann in den unvermeidlichen Vietcong-Soli-Ruf „Ho, Ho, Ho Chi Minh" zu münden. Seltsam nur, dass die Revoluzzer zur Demo Abendgarderobe tragen. Und in der zuvor geprobten Szene waren Martin Gerke und Josephine Lange, die die Hauptfiguren Benno und Christa Ohnesorg spielen, gar als frisch vermähltes Brautpaar zu erleben. Auch wenn darin historische Figuren wie Gudrun Ensslin oder der Polizist und Stasi-Spitzel Karl-Heinz Kurras auftreten – dieses Stück ist eine Fiktion, die im Kopf der um ihren Mann bangenden, schwangeren Christa Ohnesorg spielt.
Der Schuss, den Kurras damals auf Ohnesorg abgab, hat einen Nachhall, der direkt bis in die Neuköllner Oper reicht. Bernhard Glocksin, der künstlerischer Leiter, zitiert beim Versuch, die gesellschaftlichen Folgen des Ereignisses zu umreißen, erst mal den Grünen und einstigen RAF-Anwalt Christian Ströbele. Der habe gesagt, dass die Art und Weise, wie wir heute leben und lieben können, darauf zurückzuführen sei. Auf den Generationenbruch der 60er und 70er. Oder – wie Glocksin es nennt – den Wechsel vom autoritären, noch vom Nationalsozialismus geprägten „Vater Staat“ zur durch den Ungehorsam der Söhne beförderten Demokratiefähigkeit.
Vor 40 Jahren gründete Winfried Radeke die Neuköllner Oper im Geist der 68er
Die Existenz der vor 40 Jahren von Winfried Radeke gegründeten Neuköllner Oper geht auf diese politisch heftig aufgeladene Umbruchszeit zurück. Ein freies Volkstheater sollte die linke Alternative zum Muff der hierarchisch strukturierten Staatstheater sein. Deswegen ist es Glocksin in „Der Schuss“ auch ein Anliegen, mit einer neuen Generation von Musikern zu arbeiten. „Das Ensemble Adapter hat keinen Dirigenten und keine traditionelle Orchesterstruktur, sie begreifen sich als Kollektiv, das Werke gemeinsam erarbeitet.“
Sogar vom Komponisten Arash Safaian führt ein biografischer Faden zum 2. Juni. Heute lebt er in München und Berlin, geboren aber ist er 1981 in Teheran. Sein Vater, der iranische Künstler Ali Akbar Safaian, floh vor den Mullahs Mitte der Achtziger ins Exil und ließ sich samt Familie bei Bayreuth nieder. Dort ist Safaian gewissermaßen beatmet von der romantischen deutschen Operntradition aufgewachsen. Viele der linken persischen Studenten, die am 2. Juni 1967 vor der Deutschen Oper zusammen mit deutschen Kommilitonen demonstrierten, waren Freunde seines Vaters, erzählt der Komponist. „Die Anteilnahme der deutschen Studenten war sehr wichtig für die im Schah-Regime eingesperrten Oppositionellen.“
Rainer Langhans dechiffriert die Klischees über die Zeit
Safaian hat sich als Vorbereitung auf „Der Schuss“ nicht nur mit seinem Vater unterhalten, sondern in München auch den Altkommunarden Rainer Langhans getroffen. „Der dechiffriert die ganzen Klischees, die über die Zeit im Umlauf sind, ganz gut.“ Unnötig zu sagen, dass Safaian, der bei Wolfgang Rihm und Pascal Dusapin studiert hat, keine illustrative Musik schreiben wollte, die genau diese Klischees bedient, „wo der Protest nach Jimi Hendrix klingt und das Establishment nach Mozarts ,Zauberflöte‘, die drinnen lief, als draußen geknüppelt wurde“.
Und doch greift das Klangbild, das die Gedanken und Gefühle von Christa Ohnesorg reflektiert, durchaus musikalische Impulse der 60er auf – sei es nun Hendrix oder Stockhausen. Allerdings in abstrahierter Form. „Die damalige Protestbewegung hat ja nicht nur die Politik, sondern auch die Musik demokratisiert.“ Und gerade in weltweit politisch nervösen Zeiten wie heute gehöre sie nicht in den Elfenbeinturm, glaubt Safaian. „Musik ist eine nonverbale Stellungnahme, die die Menschen kompromissbereiter, sensibler machen kann.“
Ein hehres Ziel. Fürs Erste jedoch sollen sie dreckiger singen. „Volle Pulle! In die Fresse!“, feuert er das für seinen Geschmack zu sanftmütig auftretende Ensemble an. „Das ist Rock, der ist nicht brav.“ Manchmal braucht es eben Autorität, um richtig antiautoritär zu sein.
Neuköllner Oper, 2. Juni bis 8. Juli. Diskussion „Schuss und Echo – Was bringt das Erinnern an den Tod von Benno Ohnesorg?“: Sa 10. Juni, 17.30 Uhr
Gunda Bartels
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