Neuer Film von Jean-Luc Godard: Der Kampf des Blickes mit den Worten
Fast ein Vermächtnis: Jean-Luc Godards Essayfilm „Bildbuch“ ist ein Feuerwerk der Fertigteile, das Krieg, Hass und Gewalt beschwört.
In den dämmrigen Regionen, aus denen seine Filme schöpfen, hat das Bewusstsein nicht viel verloren. Assoziationsketten wie im Halbschlaf. Stimmen, Formen und Farben, die anschwellen und verebben. Ein Wetterleuchten der Gedanken. Das Ich des Erzählers ein bloßer Rezeptor für Frequenzen aus allen Teilen der Welt. Eigenes und Fremdes, Inneres und Äußeres in unvorhersehbarer Anziehung und Abstoßung. Erinnerungen in pausenlosem Zustrom. Und inmitten dieser Ideenflucht immer wieder Nacht, tiefe Nacht.
Was der mittlerweile 88-jährige Jean-Luc Godard, der 1960 mit seinem ersten langen Spielfilm „Außer Atem“ (A bout de souffle“) berühmt wurde, in seinem jüngsten Essayfilm „Bildbuch“ (Livre d’image) ans Licht holt, hat allerdings nur noch die Anmutung einer traumlogischen Collage. Aus dem abrupten Stop-and-go der Elemente scharfkantig montiert, setzt hier ein hellwacher Zeitgenosse das globale Gewitter fiktionaler und dokumentarischer Bilder von Krieg, Hass und Gewalt neu zusammen.
Man kann es verwirrend finden, wie Godard Bild und Ton asynchron gegeneinander verschiebt, Musikfragmente quer durch die Jahrhunderte mit Gemälden und literarischen Text-Inserts kombiniert, wie er aus Kinoklassikern und Found Footage oft auch optisch verfremdet zitiert und sein eigenes Werk bis zurück in die 60er Jahre plündert.
Doch was immer man diesem Feuerwerk der Fertigteile, Jump Cuts und Schwarzfilmeinsprengsel vorwerfen will: Wenn man das philosophische Brummeln und Murmeln des Regisseurs im Off nicht als das Raunen eines Sehers hört, sondern als den ihm eigenen zerknautschten Sprechton, handelt es sich um eine Deutung der Welt, die als ein Erkennen durchgehen will.
Es ist nicht schwer, dem Flackern dieses „Livre d’image“ noch im Schrecken, von dem es berichtet, jene suggestive Schönheit abzugewinnen, die Godards gesamtes Spätwerk prägt. Mit leicht verschobenen Akzenten findet sie sich spätestens seit „Notre musique“ (2004), einem strukturell an Dantes „Göttlicher Komödie“ orientierten Essay über Gewalteruptionen zwischen Sarajevo und Palästina. Beim zweiten oder dritten Sehen schälen sich auch die Konstruktionsregeln heraus: ein souveräner Umgang mit Leitmotiven durch alle fünf Kapitel hindurch, verbunden mit einem frappierenden Sinn für Ähnlichkeiten.
Überlebenskämpfe in Wasser und Schlamm
Immer wieder die ersten Takte von Mieczyslaw Weinbergs Klavierquintett op. 18 aus dem Jahr 1944, einem sinister fragenden „Moderato con moto“, das zusammen mit dem überraschend auftrumpfenden Heroismus des „Largo“ den Film strukturiert. Dazu die fahle, an Miles Davis gemahnende Trompete des Polen Tomasz Stanko, ein paar Sekunden mit dem opernhaften Popapokalyptiker Scott Walker.
Außerdem die eiskalte Joan Crawford in Nicholas Rays Western „Johnny Guitar – Wenn Frauen hassen“. Die an der Hundeleine geführten Nackedeis aus Pier Paolo Pasolinis „120 Tagen von Sodom“. Friedrich Wilhelm Murnaus „Letzter Mann"“, verschnitten mit einem den Wagenschlag öffnenden Eddie Constantine aus eigener Herstellung. Eine Erschießungsszene auf See aus Roberto Rossellinis „Paisà“ über die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs kontrastiert mit dem fast identisch wirkenden Video einer islamistischen Hinrichtung.
Überlebenskämpfe in Wasser und Schlamm. Prägnante Zug- und Bahnhofsszenen der Filmgeschichte. Außerdem Zeilen von Rainer Maria Rilke und Charles Baudelaire. Ausschnitte aus den „Abenden von St. Petersburg“, 1821 posthum veröffentlichten literarischen Gesprächen des Gegenaufklärers Joseph de Maistre, heute ein Held der Neuen Rechten, über den Sinn des Leidens und des Krieges. Und schließlich Albert Cosserys Roman „Une ambition dans le désert“ (1984) über einen fiktiven Staat am persischen Golf: „Bildbuch“ setzt sich in besonderem Maß mit dem Niedergang Europas und dem Erwachen der arabischen Welt auseinander.
Unmöglich, das verwendete Material vollständig aufzuzählen. Und selbst wenn man es wollte, käme man nicht ohne aufwendige Recherche aus. Am Ende rauschen die Quellen, ungetrennt nach Film, Literatur, Malerei und Musik, in einer reinen Namensliste fast unlesbar vorbei.
Man könnte behaupten, dass es bei diesem kinematografischen Mixtape auf die einzelnen Bestandteile nicht ankommt. Aber das Gegenteil trifft zu. Um als kontrapunktisches, sich gegenseitig kommentierendes Gefüge zu funktionieren, muss jedes Fragment mit einer erkennbaren Bedeutung aufgeladen sein. Dabei geht es nicht zuletzt um die Fähigkeit, Wirkliches und Erfundenes auseinanderzuhalten.
In seiner Frankfurter Adorno-Preisrede erklärte Jean-Luc Godard 1995: „Im großen Kampf zwischen den Augen und der Sprache hat der Blick die größte analytische Kraft.“ Er begründete dies damit, dass die Montage von Bildern die Linearität des Denkens und der Schrift durchbrechen könne. Aber das sind die Glaubenssätze eines Filmemachers, denen man – iconic turn der Philosophie hin, linguistic turn her – mit dem alttestamentarischen „Im Anfang war das Wort“ nur das allergrößte Misstrauen entgegenbringen sollte.
Eindämmung von Komplexität durch die Steigerung von Komplexität
Denn gerade die Beweiskraft von Bildern bedarf der Übersetzung in Sprache – oder zumindest der Rückversicherung. Welche Kunst welche Wirklichkeit nachahmt und welche Wirklichkeit welche Kunst, bedarf, wenn sich diese Frage überhaupt so einfach stellen lässt, der sorgfältigen Untersuchung. Sonst fallen wie im Eröffnungskapitel „Remakes“ die mimetischen Leistungen von Rossellinis neorealistischem „Paisà“ und das womöglich heroische Filmgesten nachahmende Islamistenvideo von vornherein auf trügerische Weise in eins. Sie sind, wie die Sprachwissenschaft ähnlich klingende Wörter unterschiedlicher Sprachen nennt, falsche Freunde.
Godards virtuos blitzendes Gesamtkunstwerk schließt solche Elemente stets aufs Neue kurz und erschafft eine im weitesten Sinn poetische, doch keineswegs analytische Wahrheit. Die unheilvolle Beziehung, die er konstruiert, unterscheidet sich da kaum von Verschwörungstheoretikern, die Verbindungen sehen, wo keine sind. Das wäre weitaus weniger bedenklich, wenn Godard mit seinen ästhetischen Strategien nicht zugleich politische Ziele verfolgen würde. Er betrachtet sich nach wie vor als linker Revolutionär, der zuletzt mit seinem „Film Socialisme“ (2010) eine ähnlich erratische Position bezog.
Die Bilder des Schreckens, die Godards „Livre d’image“ bis hin zum Vietnamkrieg und dem Terror der Gegenwart aufblättert, enthalten zwar einen unausgesprochenen moralischen Appell. Aber er erschöpft sich allenfalls in einem diffusen „Nie wieder Krieg“, das auch deshalb so schal schmeckt, weil natürlich auch mit Kriegsbildern neuer Krieg erzeugt wird Die grundverschiedenen Wege in die Gewalt und die Interessen, die sich hinter ihnen verbergen, sind kein Gegenstand dieses letztlich doch nur additiven Verfahrens.
Was also ist die Erkenntnis, die Godards rasendes Kaleidoskop erzeugt? Welches Licht wartet am Ende dieses 85-minütigen Zitatentunnels, der bis auf eine Handvoll selbstgeschriebener Sätze und selbstfotografierter Sequenzen ausschließlich auf vorgefundenes Material zurückgreift? Seine schwindelerregende Aneignungswut, die den herkömmlichen Gedanken von künstlerischer Originalität erst einmal verwirft, teilt es – wahrscheinlich unbekannterweise – mit Kenneth Goldsmiths „Uncreative Writing“ oder David Shields’ „Reality Hunger“.
Als Versuch, mit der medialen Überflutung des global vernetzten Planeten Schritt zu halten, der von sich mehr Bilder und Nachrichten erzeugt, als sie ein menschlicher Geist verarbeiten kann, ist dies ein kamikazehaftes Unterfangen. Jean-Luc Godard betreibt die Eindämmung von Komplexität durch die Steigerung von Komplexität. Ihm bei diesem aussichtslosen Kampf zuzusehen, ist ein Vergnügen und ein Trauerspiel zugleich.
Premiere heute, Mittwoch, um 20 Uhr im Grünen Salon der Volksbühne, ab Donnerstag in den Berliner Kinos fsk, Lichtblick, Sputnik und Wolf.
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