IS-Terror im Nordirak: Raub der Jesidinnen
Sie haben die Frauen des Dorfes verschleppt. Seine drei Schwestern getötet. Doch Murad Sahel will sich nicht beugen. Im Nordirak kämpft er gegen den Terror des IS.
Nur die Visitenkarten sind ihm geblieben, eine hält er in der Hand. „Dorferster von Kojo“ steht drauf. Das war sein Posten, ein wichtiger. Aber in den schlimmsten Momenten, die das Dorf Kojo erlebt hat, war er nicht da.
Er war nicht da, an jenem 10. August 2014, als die schwarzverhüllten Terroristen des „Islamischen Staats“ in das kleine, von Kurden bewohnte Dorf im nordirakischen Sindschargebirge kamen. Als das „große Unglück“ geschah, wie sie heute dazu sagen.
Nayyef Qasim, 50 Jahre alt, ein mächtiger Mann mit schwarzem Schnauzer und dunklen Ringen unter den Augen, ist seitdem mit den Nerven am Ende. Eine Zigarette nach der nächsten zündet er sich an, manchmal verglimmen sie zwischen seinen Fingern, ohne dass er mehr als einmal daran zieht. Die Asche fällt kalt und grau auf den Steinboden in dem Reihenhäuschen am Stadtrand von Dohuk, wo er seit anderthalb Jahren lebt. Dohuk ist die Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan, eine Universitätsstadt mit 500 000 Einwohnern.
Das „große Unglück“. Die IS-Terroristen waren noch gnädig, als sie an jenem Augusttag Kojo einnahmen. Sie töteten nicht sofort alle, wie sie es in anderen Orten schon getan hatten, sondern gewährten ihnen die Wahl: Wer zum Islam konvertierte, durfte weiterleben, wer Jeside bleiben wollte und damit nach IS-Vorstellung eine Art Teufelsanbeter, würde sterben. Etwas mehr als 400 Bewohner des Ortes konnten in die Berge fliehen, mehr als 400 Männer und Kinder wurden ermordet, die übrige Bevölkerung, rund 900 Frauen und Kinder, sind bis heute in der Hand der Islamisten, die das Dorf noch immer besetzt halten.
Eine weitere Zigarette verglimmt in Nayyef Qasims Hand. Er hat Angst, dass Kojo von der Welt vergessen wird, die Frauen und Kinder, das Schicksal der Jesiden, dieser kleinen Minderheitenreligionsgemeinschaft, die es fast nur hier im kurdischen Nordirak gibt. Deshalb spricht er, wann immer sich die Gelegenheit bietet, mit Vertretern internationaler Organisationen und ausländischen Journalisten.
Im Sommer 2014 hatten sie geschrieben, dass der IS das Sindschargebirge in „Berge des Todes“ verwandele. Die Berge sind bis heute tot, Leben ist dort kaum oder nur schwer möglich. Noch immer campieren dort IS-Terroristen. Es sind bis heute Berge, in die kaum einer zurückkehren möchte, und die Hoffnung schwindet, dass sich daran noch etwas ändert.
Eine Woche, bevor die Islamisten nach Kojo kamen, überrannten sie die Stadt Sindschar im Nordwesten des Irak, in den folgenden Tagen die umliegenden Dörfer. In der Gegend lebten bis dahin ein paar Christen und Schiiten, vor allem Jesiden, deren religiöses Zentrum in den Bergen nördlich von Sindschar liegt. Hunderttausende flohen in den Norden, viele nach Dohuk. Rund 700 000 Menschen, die dem IS entkommen sind, sollen sich dort inzwischen aufhalten.
Sie sind die Glücklichen. Tausende entkamen nicht. Sie waren zu alt, zu krank, zu langsam; sie wollten nicht fort von Zuhause oder sie hofften, die Terroristen würden sie in Ruhe lassen. Wie viele die IS-Schergen umgebracht haben, ist nicht bekannt. Sicher ist: Sie entführten etwa 4000 Frauen und Kinder aus dem Sindschar-Gebirge nach Rakka, in ihr Machtzentrum in Syrien, und nach Mosul, in die Stadt im Norden des Irak, die sie im Juni 2014 erobert hatten.
Er sagt: "Ihr könnt uns helfen"
Dass Nayyef Qasim an jenem schlimmsten Tag seinem Dorf nicht beistehen konnte, lag an seiner kranken Frau. Sie leidet an Krebs, und er war - so erzählt er - mit ihr in die nahe Türkei gefahren, wo sie behandelt werden sollte. Qasim starrt an die Wand. Stumm und wie gelähmt. Angesichts der großen und kleinen Unglücke, dem Leid seines Volkes und dem Schicksal seiner Familie. Sein Sohn kommt ins Zimmer. Er stellt dem Vater ein Glas süßen Schwarztee auf den Tisch und schaut ihn aufmunternd an. Der Kinder wegen, sagt Qasim, sei er nicht nach Kojo zurückgegangen, um gegen die Terroristen, die die halbe Welt in Aufruhr versetzen, zu kämpfen.
Und was macht sie, die halbe Welt? Nicht genug, findet Qasim. „Ihr könnt uns helfen“, sagt er, und dass Luftangriffe keine Lösung seien, weil dabei auch die Gefangenen des IS sterben könnten. Bodentruppen seien nötig. Und mehr Waffen für seine Leute, die Peschmerga. Qasim ist überzeugt, dass die Amerikaner und die Europäer helfen könnten, die Frauen und Kinder von Kojo zu befreien, die Kämpfer des IS bis heute als Sklavinnen und Kindersoldaten missbrauchen.
Murad Sahel, ein hagerer Mann mit tiefen Falten auf der Stirn und um die Augen, ist einer der Jesiden, die nicht auf Hilfe aus dem Ausland warten wollen. Er stammt aus einem Nachbarort von Kojo, auch er ist im August 2014 nach Dohuk geflohen. Jetzt rast Sahel in einem weißen Toyota-Pick-Up über schnurgerade Straßen, die von Dohuk nach Westen führen, in die die Räder der schweren Öllaster tiefe Spuren gegraben haben. Vorbei an staubtrockenen Hügeln und ausgebrannten Öltransportern. Er zeigt auf einen der Hügel, sagt, „da sitzt der Islamische Staat“, und lacht.
Sahel arbeitet als Fahrer, ein gefährlicher Job, weil Straßen häufig als erstes vom IS besetzt werden. Heute bringt er den 25 Jahre alten jesidischen Arzt Khalili Dalli zu einem Flüchtlingslager an der irakisch-syrischen Grenze. Dort sind Sahels Familienmitglieder untergekommen, die den IS-Vormarsch überlebt haben. Sie trauern um seine drei Schwestern.
Die Islamisten hatten das Auto der Frauen angehalten und die drei nach Rakka verschleppt. Nach einer Woche gelang es ihnen, einem ihrer Entführer das Telefon zu entwenden und ihren Bruder anzurufen. Noch am selben Tag begann Sahel, die Befreiung seiner Schwestern zu planen. Mit Hilfe von muslimischen Nachbarn aus seinem Dorf fand er einen Sunniten in Rakka, der bereit war, seine Schwestern für 1000 US-Dollar zur Frontlinie zum syrischen Kurdengebiet zu bringen. Es ging schief. Der IS-Mann, der die Frauen bewachte, bemerkte, dass sie das Haus verlassen wollten. Er ließ sie töten.
Murad Sahel erzählt die Geschichte, während er das Auto durch das staubige Land steuert. Er klingt verzweifelt, aber er will sich nicht ergeben. Die Tragödie sei auch der Anfang von etwas Hoffnung gewesen, sagt er. Er hält weiter Kontakt zu dem Sunniten, der gegen Geld Jesiden hilft, aus den Fängen des IS zu entkommen. Und inzwischen kennt Sahel auch mehrere Männer, die er anrufen kann, wenn er Hilfe braucht. Beinahe 100 Frauen habe er mit ihrer Unterstützung schon befreien können.
Noch etwa 3000 Jesiden werden gefangen gehalten
Menschenrechtsorganisationen schätzen, dass die Islamisten noch etwa 3000 Jesiden, vor allem Frauen und Kinder, gefangen halten. Aber deren Rettung wird immer schwieriger. Die Extremisten haben längst von den Befreiungsaktionen erfahren, sie kontrollieren jetzt strenger an den Checkpoints, schauen auch unter die Burkas der Frauen. Und weil die Gefahr steigt, verlangen die Mittelsmänner inzwischen mehr Geld, bis zu 10 000 Dollar. Auch die kurdischen Kämpfer, die die befreiten Frauen an der Frontlinie entgegennehmen, sind deutlich zurückhaltender geworden. Sie fürchten, IS-Kämpfer, die sich als Mittelsmänner ausgeben, könnten Selbstmordattentäter an die Frontlinie schicken.
Die Fahrbahn schlängelt sich nun durch die öde Landschaft und Murad Sahel sagt, „wir bringen die Frauen immer sofort zum Arzt. Sie wurden alle vergewaltigt“. Dann reicht er sein Smartphone. Auf dem Bildschirm ist das Foto eines jungen, kräftigen Mannes zu sehen, der auf einer Wiese sitzt, umgeben von vielen Menschen mit vielen Koffern und Bündeln. „Das bin ich auf der Flucht vor dem IS“, sagt er. Auf dem Bild sieht er 20 Jahre jünger aus. Murad Sahel zündet sich eine Zigarette an, öffnet das Fenster, heiße, staubige Luft bläst ihm ins Gesicht. Den Rest der Fahrt schweigt er.
Das Flüchtlingslager Bajid Kandala taucht hinter einem staubigen Hügel auf. Graue Zeltplanen erstrecken sich auf beiden Seiten der Straße, die zum Grenzübergang nach Syrien führt. Über den Zelten spannt sich orange-gelb der Nachmittagshimmel. Am Straßenrand stehen Kinder mit verfilzten Haaren und zerrissenen Kleidern. Sie laufen neben jedem Auto her, das vorbeifährt, strecken dem Fahrer Wasserflaschen und Telefonkarten entgegen. Der Straßenverkauf ist eine der wenigen Möglichkeiten, hier draußen Geld zu verdienen.
Das Lager ist eines von acht in der Umgebung von Dohuk. Fast 14 000 Menschen leben hier, die stammen aus dem Sindschar-Gebirge. Etwa ein Sechstel der eineinhalb Millionen Menschen, die in den vergangenen drei Jahren in den Norden des Landes geflüchtet sind, leben in den Lagern. Viele sind auch bei Verwandten untergekommen. Und wer es sich leisten kann, hat eine Wohnung in Dohuk gemietet. Ohne Geld oder Verwandte, bleibt nur die Unterkunft in einem Flüchtlingslager oder in einer Bauruine.
Der Arzt Khalil Dalli, ein schmaler Mann mit ernstem Blick, hilft nicht nur in der Krankenstation des Flüchtlingslagers, auch seine Familie ist auf dem Gelände untergekommen. Die Eltern, die Großmutter, fünf Brüder, zwei von ihnen mit ihren Frauen, eine Schwester, drei Enkelkinder leben in drei Zelten mit Betonboden, Fernseher, Kühlschrank und Klimaanlage. Er selbst arbeitet seit ein paar Monaten halbtags als Assistenzarzt in einem Krankenhaus von Dohuk, wo er auch lebt. Seinen Verwandten bringt er ab und zu Lebensmittel aus der Stadt.
Im Winter könnte das Essen knapp werden
Es gehe ihnen gut hier, sagt Khalil Dalli. Er hockt auf einer dünnen Matratze in dem Zelt, das die Familie als Wohnzimmer nutzt. Sein Vater Khalat, der neben ihm kauert, nickt. Sie hätten genug zu essen und noch ein wenig Geld von früher, außerdem seien die Zelte für den Winter gerüstet. Einer von Dallis Brüdern hat zudem einen Job als Sozialarbeiter bei der skandinavischen Nichtregierungsorganisation gefunden, die das Lager managt. „Den meisten hier geht es schlechter als uns“, sagt Dalli.
Mitarbeiter der Caritas, die in den Flüchtlingslagern um Dohuk arbeiten, sagen, es fehle Geld, um die Flüchtlinge im Winter mit Essen zu versorgen. Und gerade erst hat ein Sprecher des World Food Programms der Vereinten Nationen in New York angekündigt, dass diese ohnehin zu knappe Hilfe weiter gekürzt werde.
Khalil Dalli erzählt, dass im August 2014 nicht nur die Islamisten über die Jesiden hergefallen seien, sondern auch sunnitische Nachbarn. „Die meisten Jesiden wollen deshalb nie mehr zurück nach Sindschar, selbst wenn die Islamisten aus der Region verschwinden“, sagt er. „Sie haben einfach Angst.“ Im Nordirak aber hätten sie keine Möglichkeit, sich ein neues Leben aufzubauen. „Alle wollen weg“, sagt er. Aber er habe gehört, dass es in Europa für Flüchtlinge aus dem Irak schwierig sei. Dass viele von ihnen in Turnhallen schlafen müssten. Dass es sehr lange dauern könne, bis ein Flüchtling arbeiten darf. Trotzdem: „Alles ist besser als hier zu sein.“ Seine Brüder nicken.
Später besucht Dalli die Kranken in dem Lager. Es sind Männer darunter, die seit der Flucht nicht mehr richtig schlafen können; Frauen, die nicht mehr essen; Kinder, die um sich schlagen. Er hört zu, fragt, was sie brauchen, notiert alles in einem Notizbuch. Verteilt manchmal ein Beruhigungsmittel, das einzige Medikament, das er hat. Dann fährt er zurück nach Dohuk. In der Stadt teilt er sich ein Zehn-Quadratmeter-Zimmer mit einem Taxifahrer.
Khalil Dalli sagt, auch er möchte bald aufbrechen - nach Europa.