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Gipfelbezwinger. Barenboim absolvierte neun Konzerte in elf Tagen.
© Rittershaus

Barenboim und die Staatskapelle in New York: Der Himmel der Carnegie Hall

Neun Konzerte, geballt an elf Tagen: Daniel Barenboim und die Berliner Staatskapelle zelebrieren in New York ihren Bruckner-Zyklus. Ein Wagnis, das vollends zu begeistern weiß.

Barenboim und wie er in New York auf der Bühne steht: Mit einer spontanen Ansprache zur Rolle der Kultur und Amerikas Verantwortung für die Welt trifft er den Nerv an jenem Tag, an dem sein 60. Bühnenjubiläum in der Carnegie Hall und die Vereidigung des neuen Präsidenten zusammenfallen. Und dann, als sein neun Konzerte an elf Tagen umfassender Bruckner-Marathon fast geschafft ist, zeigt der Maestro nach der heroischen Achten unerwartet zarte Rührung und Dankbarkeit.

Dieses Gastspiel, bei dem die Staatskapelle Berlin erstmals in der Geschichte der USA alle Symphonien Anton Bruckners als Zyklus aufführt, rüttelt auf. Gewaltige Musik, gespielt zu einem Zeitpunkt, an dem sich Amerika schmerzhaft entzweit. Kein Tag vergeht, an dem nicht irgendwo in der Stadt Proteste organisiert werden, auch einige Berliner Musiker nehmen teil, während einer ihrer Kollegen zunächst bei der Einreise hängen bleibt. Der Grund: sein lateinamerikanischer Name. Die Welt steht in dieser ersten Trump-Regierungswoche jeden Tag ein bisschen mehr Kopf, während die Staatskapelle sich durch das Werk eines Sonderlings arbeitet, der alles Irdische hinter sich lassen wollte.

„The Divine Nine“ steht auf dem Button gedruckt, der in der Carnegie Hall ausliegt und für den Bruckner-Zyklus werben soll, dazu ist ein Hochgebirgsmassiv abgebildet. Klassik als Extremsport in den Straßenschluchten von Manhattan. Hausherr Clive Gillinson will nicht selbst beim Künstlerprotest gegen Trump das Wort erheben. „Das ist das unbedingte Recht der Künstler. Wir schaffen den Rahmen dafür.“ Was der Carnegie-Intendant ganz konkret fürchtet, ist eine Wirtschaftsflaute, die sein von Spenden lebendes Budget empfindlich treffen würde. Auch dazu könnte die Politik des neuen Präsidenten führen. Gillinson dagegen plädiert dafür, künstlerische Risiken einzugehen, die aus der Komfortzone führen.

Von diesen Wänden hallen 125 Jahre Musikgeschichte wider. Instrumentalisten der Staatskapelle im Backstage-Bereich der legendären Konzerthalle.
Von diesen Wänden hallen 125 Jahre Musikgeschichte wider. Instrumentalisten der Staatskapelle im Backstage-Bereich der legendären Konzerthalle.
© Monika Rittershaus

Barenboims Bruckner-Zyklus ist so ein Wagnis, obwohl der Dirigent und sein Orchester einen fantastischen Ruf in New York genießen. Doch der Komponist gehört in den USA nicht zum Standardrepertoire, viele seiner Symphonien sind hier schlicht unbekannt. Anders bei Gustav Mahler, den Leonard Bernstein zu einem fest in New York beheimateten Komponisten machte (was Mahler ja durchaus auch war, der über 70 Mal in der Carnegie Hall dirigierte).

Neun Konzerte, geballt an elf Tagen – darauf will sich in dieser geschäftigen Stadt niemand festlegen. 2800 Sitzplätze jeden Abend können da viel sein. Am Ende sind mehr als 21000 Tickets für das Gastspiel verkauft, eine Zahl, die auch den Veranstalter überrascht. Und die Begeisterung des Publikums wächst in Regionen, die Bruckner sein Leben lang nicht einmal ahnen konnte.

Das liegt auch an der Carnegie Hall selbst, die auf wundersame Weise mit dem Klang der Staatskapelle harmoniert. Sie trägt jedes pianissimo auf Händen und behält selbst beim dreifachen forte eine feine Gelassenheit. Ein Raum, der, wie Barenboim es formuliert, das Stadium einer großartigen Konzerthalle hinter sich gelassen hat, aus dessen Wänden vielmehr Geschichten von 125 Jahren widerhallen.

Der Archivar der Carnegie Hall

Gino Francesconi kennt sie alle. Der Musikstudent, der eigentlich Dirigent werden wollte, begann als Platzanweiser in der Carnegie Hall. Später, das Studium fiel der Geldknappheit zum Opfer, wurde er Künstlerbetreuer, kümmerte sich um die Stars, brachte sie gut auf die Bühne und wieder herunter. Inzwischen ist Francesconi Archivar der Carnegie Hall und eine unerschöpfliche Quelle musikalischer Geschichten.

Natürlich hat er auch seinen eigenen magischen Bruckner-Moment erlebt. Als Karajan 1989, im Jahr seines Todes, noch einmal mit den Wiener Philharmonikern kam und die Achte dirigierte. Nur unter großen Mühen betrat der greise Maestro das Podium, „doch dann, diese Verwandlung durch die Musik, die er komplett beherrschte“, erinnert sich Francesconi. „Das war gewaltig". Auch Barenboims Auftritte hat er gehört, alle Mozart-Klavierkonzerte, die Sonaten und Symphonien von Beethoven, die Symphonien von Schumann und Mahler. Über 140 Mal ist Barenboim in der Carnegie Hall zu Gast gewesen, als Dirigent und Solist: „Unglaublich, wer kann das alles in einem einzigen künstlerischen Leben vereinen?“, staunt der Archivar.

Barenboim versucht, Routine zu vermeiden

In der „Maestro Suite“ sitzt Daniel Barenboim nach der Vormittagsprobe vor einer Schale mit extraklein geschnittenem Obstsalat. Eine Zigarre liegt eingeschweißt auf dem Tisch. Hier darf er nicht rauchen und im Hotel nebenan, wo die Staatskapelle einquartiert ist, auch nicht. Deshalb wohnt der Maestro woanders, wo man ihn in Ruhe qualmen lässt. Über Barenboim an der Wand hängt ein Porträt des Dirigenten, unter dem er in der Carnegie Hall sein Debüt gab, 1957, im Alter von 14 Jahren. „Leopold Stokowski war ein Zauberer“, sagt Barenboim, „und ein lustiger Mensch“.

Seit 25 Jahren bilden die Staatskapelle und Barenboim eine musikalische Einheit. Der Chef ist voll des Lobes: „Nach all diesen Jahren sind die Musiker noch immer voller Neugier und Aufmerksamkeit. Das ist das größte Geschenk für einen Dirigenten.“ Seinen Beitrag sieht er unter anderem in aktiver Vermeidung von Routine: „Das Orchester kann sich darauf verlassen, dass ich mich nie wiederhole.“ Vereinzeltes öffentliches Nörgeln wegen langer Abwesenheiten der Staatskapelle auf ausgedehnten Tourneen prallt an ihnen ab. Ein solches Orchester muss sich zeigen, weltweit, darin ist man sich einig.

New York ist die fünfte Station mit Bruckner, nach Berlin, Tokio, Wien und Paris. Barenboim dirigiert auswendig, außer bei den ersten beiden Symphonien, die er nur im Zyklus spielt. Seine Proben werden von einer Reihe junger Dirigenten verfolgt, unter ihnen Nimrod David Pfeffer, Assistent an der Met und Musikchef der Lyric Opera of Guatemala. Jeden Vormittag kommt er, legt sich die Partitur auf die Knie, macht Notizen darin, strahlt über das ganze Gesicht. „Das ist wie eine Meisterklasse, ich bin im Himmel“, gesteht Pfeffer, der dem dunklen Klang der Staatskapelle und ihrem effizient probenden Chef verfallen ist.

Bruckner als Komponist fürs Hier und Jetzt

Auch Benjamin Korstvedt, Professor für Musik an der Clark University und Präsident der Bruckner Society of America, ist begeistert. Nach dem dritten Abend hat er Barenboim die Ehrenmedaille der Bruckner-Freunde für seine Lebensleistung überreicht. Seine Society hat jetzt wieder mehr als 100 Mitglieder. Der Vorsitzende arbeitet auch an der neuen kritischen Bruckner-Ausgabe mit, die dieses Jahr in Wien erscheinen soll. „Die Reputation von Bruckner im akademischen Diskurs der USA ist leider gering“, räumt er ein.

Man könnte auch sagen, sie befindet sich auf dem Niveau, das der Wiener Kritiker und überzeugte Bruckner-Gegner Eduard Hanslick einst vorgab: Brahms ist das Maß aller Dinge, Bruckner nur ein vom Weg abgekommener Sonderling. Die Probe zur Achten elektrisiert Korstvedt, er schwärmt von den vielen feinen Details, davon, wie die Musiker aufeinander hören und Kraft entfalten, ohne zu dröhnen. Bruckner, das ist für ihn die Faszination nebeneinander gestellter Themenblöcke. „Man muss sie immer auch für sich selbst miteinander in Verbindung bringen.“ Bruckner als Zumutung, als Herausforderung, als offene Frage. Ein Komponist fürs Hier und Jetzt.

Robert Wolski hat den gesamten Zyklus gekauft. In der Upper West Side legt er Menschen und ihre Probleme auf die Couch. Seit ihn während des Studiums ein Kommilitone bei der Erwähnung Bruckners mit verklärtem Gesicht angesehen hat, will er das Rätsel dieses Komponisten lösen. „Hochgradig obsessiv“, urteilt er über Bruckners Klangwelt und lacht. Aus dem Mund eines Psychoanalytikers ist das unbedingt als Wertschätzung zu verstehen, als ein lohnender Fall. Und erneut ganz gegenwärtig.

So hat man Bruckner bisher noch nicht gehört

Einen Tag Pause zwischen lauter Gipfelbezwingungen? Nicht für Barenboim. Dann leitet er ein Konzert zu Ehren des vor einem Jahr verstorbenen Freundes Pierre Boulez. Auch Architekt Frank Gehry ist gekommen, dessen Modell für den Berliner Boulez-Saal dem kranken Komponisten viel Freude bereitet haben soll. Barenboim erinnert an einen radikalen Künstler, dessen Ziel stets Komplexität gewesen sei. Und er stellt das neue „Boulez Ensemble“ vor, einen flexiblen Verbund aus Musikern der Staatskapelle und des West-Eastern Divan Orchestra, das in seinen Programmen Klassik, Moderne und Gegenwart nebeneinander präsentieren will. Das Ensemble wird am 4. März den Boulez-Saal eröffnen, in New York spielt es bereits jetzt eine vor Energie schier berstende Interpretation von Boulez’ „Dérive 2“ in der Zankel Hall: Tief unter den Straßen von Midtown Manhattan fügen sich Geräusche der vorbeifahrenden Subway organisch in die Komposition ein.

Geduld, so sagt man, ist für einen großen Bruckner-Dirigenten unerlässlich. Daniel Barenboim, der Umtriebige, muss sie gelernt haben, vielleicht auch bei den langwierigen Berliner Großunternehmungen wie seiner Akademie und dem Boulez-Saal. So vollständig, so natürlich klangmächtig, so klar in dem Bewusstsein, dass es nur einen Höhepunkt geben kann, hat man seinen Bruckner bislang nicht hören können. Nach der Achten ist die Erleichterung im Orchester mit Händen zu greifen. Das schwierigste Flötensolo geschafft, die Energie in den Streichern hochgehalten, schier endlose Bläser-Choräle bestanden, von zartesten Ansatz bis zum strahlenden Unisono.

Am nächsten Tag noch eine Matinee mit der letzten Musik, die Bruckner vollenden konnte, seinem Adagio der Neunten, das die Tür zum Paradies vorsichtig öffnet. Sehen konnte er es nicht mehr. Stille danach auf der Busfahrt zum Flughafen. Und darin auch Gedanken an jene, die dort nun abgewiesen werden, weil ein Präsident versucht, Amerikas Türen zu schließen.

Hinweis: Unser Redakteur wurde zur Berichterstattung von der Staatskapelle nach New York eingeladen.

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