Barenboim-Said Akademie: Der gemeinsame Kammerton
Die Barenboim-Said Akademie erzieht junge Musikerinnen und Musiker aus dem Nahen Osten zum Leben nach rechtem Maß
Große Musik lädt zum politischen Missbrauch ein: Die Vergewaltigung von Liszts „Siegesfanfaren“ der Preludes, diesem Ohrwurm totalstaatlicher NS-Propaganda, hatte sie für eine ganze deutsche Generation nach 1945 gleichsam „ungenießbar“ gemacht. Daraus folgt: Wo immer Politik und Musik in unmittelbare Nachbarschaft geraten, gilt es, das rechte Maß zu finden. Darum geht es in der Barenboim-Said Akademie zu Berlin: um die Erziehung junger Menschen zum rechten Maß im musikalischen wie im geistigen und gesellschaftlichen Miteinander. Gegenseitiger Respekt ist der Kammerton der Akademie.
Die Tugend des „rechten Maßes“ verbirgt sich im Schlagwort von Politik als der Kunst des Möglichen. Und worauf sonst gründet jene Tugend als in der Anerkennung der Menschenrechte, des Rechts eines jeden Einzelnen auf ein Leben in Würde, in Freiheit und Gerechtigkeit? Die historische Geburtsstunde der Menschenrechte aus dem Geist der Aufklärung Ende des 18. Jahrhunderts stimmt überein mit derjenigen der musikalischen europäischen Klassik. Ein Zufall? Eher nicht.
Die Barenboim-Said Akademie ist in erster Linie ein musikalisches, aber doch auch ein politisches und pädagogisches Projekt. In Berlin, der „Welthauptstadt der Musik“ (Barenboim), finden junge Menschen „offiziell“ verfeindeter Nationen aus dem Nahen Osten zusammen, um gemeinsam zu lernen und zu musizieren. Für die Konfliktgegner in ihren Heimatländern setzen sie ein Vorbild für gelebten Humanismus und kreative, respektgetragene Zusammenarbeit in Musik. Als staatlich anerkannte private Musikhochschule bietet sie den Studierenden ein vierjähriges Studium mit einem BA-Abschluss an.
Als Daniel Barenboim mit dem palästinensisch-amerikanischen Literaturwissenschaftler Edward Said im Jahr 1999 in Weimar das West-Eastern Divan Orchestra gründete, schwebte ihnen eine kulturpolitische Utopie vor: Im Zusammenspiel von jungen israelischen und arabischen, zumal palästinensischen Musikern sollte jener Respekt buchstäblich zu Gehör kommen. Ein Orchester, das als schöpferisches Beispiel für die humanistische Idee einer grenzüberschreitenden Gemeinsamkeit gelten könnte, die im politischen Alltag des Nahen Ostens verloren gegangen ist – das war das Ziel seiner Gründer. Es hat sich seither in Hunderten von Konzerten in aller Welt bewährt. Mehr als 800 junge Musiker sind durch Barenboims Schule des West-Eastern Divan Orchestra gegangen – viele von ihnen haben inzwischen professionelle Karrieren in bedeutenden Orchestern ihrer Heimatländer gemacht. Verbunden sind sie durch gemeinsame Erfahrungen über Grenzen und unterschiedliche Kulturkreise hinweg. Sie sind Freunde durch und in Musik geworden.
Die Barenboim-Said Akademie hat es sich zum Ziel gesetzt, in ihrer Ausbildung junger Studierender aus Israel und Palästina, aus Jordanien, dem Libanon, aus Syrien, Ägypten, dem Irak und dem Iran jenes „rechte Maß“ in ihrem Musizieren und in ihrer Weltsicht einzuüben. Es geht nicht darum, über die realen Streitigkeiten ihrer Herkunftsländer die Illusion falscher Harmonie oder luftiger Friedensträume auszubreiten. An der Akademie wird wie an allen anderen Musikhochschulen Kontrapunktik gelehrt – auch im diskursiven Miteinander. Neben der musikalischen Ausbildung liegen Unterrichtseinheiten zur Geschichte der Philosophie im Curriculum. Und es geht nicht um ideologische Indoktrination – unsere Studierenden sollen lernen, unabhängig und frei zu denken. Die Erfahrungen, die Daniel Barenboim als Dirigent und Pädagoge des West-Eastern Divan Orchestra gesammelt hat, dienen als Richtlinien des Curriculums.
Die Bundesregierung, die Stadt Berlin, vor allem aber die Abgeordneten des Bundestags haben das außergewöhnliche Projekt der Barenboim-Said Akademie im gleichen Maß möglich gemacht wie eine Reihe privater, großzügiger Spender, die ein Drittel der Baukosten übernommen haben. Für das reiche Musikleben der Hauptstadt steht der Pierre Boulez Konzertaal vom Reißbrett des kalifornischen Architekten Frank Gehry zur Verfügung. Mit seinen 683 Plätzen füllt er im Kreis der Berliner Konzertsäle eine Lücke. Gehry hat seine Arbeit kostenlos zur Verfügung gestellt. So ist die wohl ungewöhnlichste Musikhochschule des Landes entstanden – geboren aus dem Geist des Humanismus, der Versöhnung und der Schönheit von Musik.
Weltoffenheit und Neugier auf die jeweils "Anderen"
In einer historischen Epoche, in der zentrifugale Kräfte des Nationalismus, der Fremdenfeindlichkeit und der kleingeistigen Sehnsucht nach Abschottung von allen Übeln der Welt an Europas Zusammenhalt zerren, ist in der Mitte Berlins eine Akademie entstanden, in der Weltoffenheit und Neugier auf die jeweils „Anderen“ den Geist der akademischen Arbeit bestimmen werden. Oder sollte es nicht heißen – den Ton angeben?
Der Autor ist Gründungs- Direktor der Barenboim-Said Akademie. Der ehemalige Verleger und Chefredakteur der ZEIT war der erste Staatsminister für Kultur im Kabinett von Gerhard Schröder.
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