zum Hauptinhalt
Glaub bloß nicht, dass du den Hut aufhast. Hugo Ball und Emmy Hennings.
© Insel Verlag

Hugo Ball und Emmy Hennings: Der Hakenschläger und die Wegläuferin

Dada und danach: Bärbel Reetz erzählt vom Leben des wunderlichen Paares Hugo Ball und Emmy Hennings.

Das raffinierteste Selbstporträt, das Hugo Ball je geschrieben hat, findet sich in seinem Roman „Tenderenda der Phantast“. Dem quecksilbrigen Helden des kleinen, zwischen 1914 und 1920 entstandenen Romans, werden dort völlig gegensätzliche Eigenschaften zugeschrieben: „Der Autor nennt ihn einen Phantasten, er selbst nennt sich in seiner verstiegenen Weise ,Kirchenpoet‘. Auch als ,Ritter aus Glanzpapier‘ bezeichnet er sich, was auf den donquichotischen Aufzug hinweist, in dem Tenderenda bei Lebzeiten sich zu bewegen liebte. Er gesteht, seiner Fröhlichkeit müde zu sein und erfleht sich den Segen des Himmels.“

Hugo Ball alias Laurentius Tenderenda hatte, bizarr kostümiert mit einem „Schamanenhut“, als „Ritter aus Glanzpapier“ in dem von ihm zusammen mit seiner Lebensgefährtin Emmy Hennings vor hundert Jahren, im Februar 1916, in der Zürcher Spiegelgasse Nummer 1 gegründeten Cabaret Voltaire die dadaistische Bewegung auf den Weg gebracht. Wenige Monate später war er, erschöpft von ihren Spektakeln, ins Tessin geflohen, um dort als asketischer „Kirchenpoet“ an Heiligengeschichten zu arbeiten. Das chamäleonartige Schillern des Helden Tenderenda spiegelt so das zwischen christlichen, dadaistischen und anarchistischen Energien oszillierende Leben von Hugo Ball selbst. Ausgerechnet den eminent wichtigen „Tenderenda“-Roman hat die exzentrische Dichterin und Diseuse Emmy Hennings in ihren Briefen allerdings als Dokument des „Übergangs“ abqualifiziert. Sie witterte in diesem ironischen Text eine Apologie der dadaistischen Revolte und eine Geringschätzung der späteren Katholizität Balls.

Es hat lange gedauert, bis eine substanzielle Biografie dieses so überaus wandlungsfähigen Dichters und Mystikers geschrieben werden konnte. Zu sehr war Balls Leben eingesponnen in ein Gespinst aus hagiografischen Darstellungen, zu denen Emmy Hennings’ Erinnerungsbücher die Legenden lieferten. All die Sprunghaftigkeiten, die nicht nur Ball, sondern auch der ewig von „Weglaufsucht“ getriebenen und ihrer Morphiumabhängigkeit zermürbten Emmy Hennings zu eigen waren, hat nun Bärbel Reetz geduldig entschlüsselt und in einer Doppelbiografie analysiert. Bereits 2001 hatte Reetz die „Vielfachheiten“ der innerlich zerrissenen Emmy Hennings in einer fesselnden Biografie nachgezeichnet. Für das neue Buch „Das Paradies war für uns“ hat sie nun ihrem Lebensbild des „blauen Paradiesvogels“ Hennings’ aufschlussreiche Weiterungen hinzugefügt.

Väterlicher Beschützer und sühnendes Kind

Die Entscheidung, dem „wunderlichen Paar“ Ball/Hennings eine Doppelbiografie zu widmen, in dem die Lebenslinien der beiden Protagonisten chronologisch nachgezeichnet werden, erscheint zwingend. Denn die Suchbewegungen, die das Leben des seit Mai 1915 verbundenen Paars bestimmten, sind trotz aller Fliehkräfte, die diese Künstlerehe immer wieder gefährdet hat, bis zum Tod Balls ein gemeinsames Projekt geblieben. Er agierte dabei in der Rolle des väterlichen Beschützers, der gleichwohl zu gewaltigen Eifersuchtsszenen fähig ist. Emmy blieb zeitlebens sein „tiefe Schuld sühnendes Kind“ (Reetz) und trotz aller guten Vorsätze unfähig zur Monogamie. Im Göttinger Wallstein Verlag erscheint derzeit eine kommentierte Studienausgabe ihrer Werke. Der erste Band (576 Seiten, 24,90 Euro) enthält neben dem 1919 erschienenen Roman „Gefängnis“ mit „Das graue Haus“ und „Haus im Schatten“ auch zwei unveröffentlichte Texte. Alle drei verbindet Hennings’ Faszination für Straffälligkeit und Bestrafung, Schuld und Sühne und das Leben im Gefängnis.

Bärbel Reetz ist den Lebensstationen ihrer beiden Helden akribisch nachgegangen und hat einige aufregende Entdeckungen gemacht, die in bisherigen Darstellungen fehlten. Da ist zum Beispiel die Begegnung Balls mit der ungarisch-jüdischen Schauspielerin Leontine Sagan, die Ball in den Jahren 1913/14 so umtrieb, dass er sogar zur Heirat mit Sagan entschlossen war, um ihr ein Engagement an einem Theater in Wien zu ermöglichen. Es fehlt auch nicht an Hinweisen auf die dunklen Seiten von Emmys Vagabundentum.

Die Entscheidung, für ihre Tochter Annemarie nur selten Verantwortung zu übernehmen und sie zunächst zur Großmutter und später zu diversen Betreuern, Schulen und Ausbildern abzuschieben, wird von Reetz kühl kommentiert. Auch Balls Fähigkeit, sich mit Freunden „alsbald zu verkrachen“, rückt in ein neues Licht. Ob Willy Deutschmann, der Wasgau-Maler, mit dem Hugo Ball in seinen jungen Jahren befreundet war, ob Leontine Sagan oder auch Carl Schmitt, der umstrittene Rechtsphilosoph: Sie alle lernten einen Hugo Ball kennen, der nicht zögerte, Kontakte sofort abzubrechen, wenn sich seine Lebenspläne änderten oder er sich Kritik ausgesetzt sah.

Reetz rückt auch die schöne Fantasie vom Produktionspaar Ball/Hennings zurecht: „Wie so häufig in dieser Beziehung ist das Getrenntsein für das Paar ein besseres Bindemittel als das Zusammenleben, erlaubt die gegenseitigen Projektionen, aus denen ihre Beziehung lebt.“ Im Juli 1917 pilgern Hugo, Emmy und Annemarie mit dem Schriftsteller Friedrich Glauser auf die Alp Brussada im Maggiatal. Während Hugo dort an seinem „Bakunin-Brevier“ arbeitet und sich von den Ideen des Anarchismus enthusiasmieren lässt, wird er zugleich von katholischen Evidenzen überwältigt: „Hier oben, 1800 Meter über dem Meer, mache ich heute eine Entdeckung ... Die Kirche ... und abermals die Kirche gegen den Ansturm der linken und rechten, der konservativen und rebellischen Naturapostel.“

Für Hugo Ball war es selbstverständlich, seinen mystischen Katholizismus mit dem Anarchismus eines Michail Bakunin zu synthetisieren. Bärbel Reetz hat diese faszinierende Koexistenz geistiger Widersprüche in bislang unerreichter Genauigkeit dokumentiert. Michael Braun

Bärbel Reetz: Das Paradies war für uns. Hugo Ball und Emmy Ball-Hennings. Insel Verlag, Berlin 2015. 484 Seiten, 16,99 €.

Zur Startseite