Reinhard Mehring: Leben im Ausnahmezustand
Wie fängt man ein Chamäleon? Wie schreibt man die Biographie Carl Schmitts? Beide Fragen hatte sich der renommierte Schmitt- Forscher Reinhard Mehring jüngst in einem Essay zu Recht gestellt.
Wie fängt man ein Chamäleon? Wie schreibt man die Biographie Carl Schmitts? Beide Fragen hatte sich der renommierte Schmitt- Forscher Reinhard Mehring jüngst in einem Essay zu Recht gestellt. Im Jahrhundertleben des bedeutenden Staatsrechtlers Carl Schmitt verdichtet sich die deutsche Geschichte, seine Vita ist das schattenrissige Abbild einer epochalen Zäsur – trennscharf und zugleich verschwommen. Schmitt polarisiert: Sein Ruf oszilliert zwischen blinder Verehrung und blankem Hass. Bisher erschienene biografische Arbeiten griffen oft argumentativ zu kurz oder stellten eher das narrative Element der Lebensbeschreibung in den Vordergrund. Auch die einschlägigen englischsprachigen Vorleistungen sind inzwischen veraltet oder einseitig. Anders Reinhard Mehrings nun publizierte Biographie: Die Analyse des Heidelberger Politikwissenschaftlers setzt neue Maßstäbe. Mehring gelingt es ganz ausgezeichnet, das Chamäleon Schmitt in seiner Vielseitigkeit einzufangen. Seine opulente Lebensschau des konservativen Ausnahmedenkers ist so flüssig zu lesen, dass auch ein Schmitt-Laie folgen kann. Zwar scheint Mehring mitunter einem abrupt-epigrammatischenSchreibstil zu verfallen, doch wird er damit bloß dem stenografischen Duktus des leidenschaftlichen Tagebuchschreibers und Aphoristikers Schmitt gerecht. Auch spiegelt sich in dieser strengen, stakkatoartigen Protokollierung die unentwegte Gehetztheit im Leben des verwegenen Rechtsintellektuellen vor seiner endgültigen Rückkehr nach Plettenberg im Jahre 1947 wider.
Reinhard Mehrings Biografie hält Schritt mit Schmitts hohem Lebenstempo in den frühen Jahren. Souverän und stellenweise äußerst lebhaft hangelt sich der Schmitt-Kenner von einer Lebensstation zur nächsten. Lediglich in Ausnahmefällen gewinnt man den Eindruck, Mehring setze Zusammenhänge als bekannt voraus, etwa hinsichtlich Schmitts zwiespältigem Verhältnis zu Ernst Jünger. Zudem beschränkt sich Mehring gelegentlich sehr auf die Faktizität, wodurch die Motive hinter den Handlungsweisen des Plettenbergers unklar bleiben. In Anbetracht von Reinhard Mehrings fast obsessiver Expertise überrascht es positiv, dass er sich eine gesunde, kritische Distanz zu seinem Forschungsgegenstand bewahrt hat. Mehring ist Schmitt weder Freund noch Feind. Weder springt er auf den Zug der zahlreichen Schmitt-Apologeten auf, noch solidarisiert er sich mit den Heerscharen der Gegner des berüchtigten Kronjuristen.
Erstmals standen Mehring die kürzlich aus der Gabelsberger Kurzschrift transkribierten Tagebuchbestände bis 1934 zur Verfügung, die einen tiefen Einblick in das reichlich komplexe Seelenleben Carl Schmitts offenbaren. Nicht unähnlich Joachim Radkaus entmystifizierender Max-Weber-Biografie, erfährt man bei Mehring von diversen sexuellen Eskapaden (Lizzi, Lolo und wie sie alle heißen …) und Affären (Margot, Magda, Kathleen etc.) des jungen Schmitt. Der Ästhet Carl Schmitt geriert sich gerne als Don Juan, gibt sich hemmungslos amourösen Abenteuern hin und notiert daheim penibel selbst körperliche Details wie „Erregungen und Ejakulationen“. Wohlgemerkt werden pikante Tagebucheinträge, wie Sex „mit Magda im Coupé“ in einem Atemzug mit Momenten hochseriöser legistischer Arbeit am Ausführungsgesetz zu Art. 48 genannt. Auch die Hintergründe für Schmitts größte Enttäuschung, die später annullierte Ehe mit der Hochstaplerin Cari Dorotic und die damit verbundene Exkommunikation aus der katholischen Kirche werden bei Mehring schonungslos aufgedeckt. Nicht nur der krude Antisemit, der übermäßig Wein trinkende Opportunist und boshafte Agent Provocateur, sondern auch der fleißige, gutmütige, Klavier spielende, gebildete, charmante Carl Schmitt werden vorgestellt.
Dank der Tagebuchaufzeichnungen werden zudem lang anhaltende Gerüchte vollends entkräftet, Schmitt habe die Ereignisse des 30. Januar 1933 hautnah miterlebt. Weit gefehlt – er lag mit Grippe im Bett. Gleichwohl hatte der NS-Virus den selbst ernannten Verteidiger Weimars bereits vollständig erfasst. Dies entgegen der von Schmitt zeitlebens für sich reklamierten Immunität gegen die Nazi-Ideologie. Hierzu ist eine Anekdote überliefert, die man bei Mehring übrigens vergebens sucht, wonach sich Schmitt nach Kriegsende im sowjetischen Verhör mit dem seinerzeit berühmten Bakteriologen Max von Pettenkofer verglichen haben will. Dieser soll im Selbstversuch eine Kultur von Cholerabazillen vor den Augen seiner versammelten Studentenschaft getrunken haben, um seine These der Immunität als mentale Bereitschaft zur Resistenz am eigenen Leibe zu überprüfen. Genauso habe sich Schmitt dem NS-Virus ausgesetzt, ohne infiziert worden zu sein. Pettenkofer wurde tatsächlich nicht krank. Von Carl Schmitt hingegen ist eine solche Immunität nicht zu behaupten. Zu tief ist seine Verstrickung in den juristischen Tretmühlen des faschistischen Unrechtsregimes. Mit seiner Schrift „Der Führer schützt das Recht“ wird Schmitt endgültig zum Advocatus Diaboli und rechtfertigt die Röhm- Morde. Eifrig agitiert der Jurist für eine Befreiung der deutschen Rechtswissenschaft vom jüdischen Ungeist. Schmitt, der sich anfangs noch als staatsrechtlicher Aufhalter des totalen Führerstaates wähnt, ist nun endgültig zu dessen Beschleuniger geworden. Mehring listet insgesamt 42 mögliche Entscheidungsgründe auf, weshalb Schmitt der NS-Bewegung verfallen sein könnte. Neben dem Legalitäts- und Legitimitätsargument erscheinen das Opportunismus- und Karriereargument am glaubwürdigsten. „Alles dreht sich so, dass ich höherkomme!“, vertraut der junge Schmitt bereits 1914 seinem Tagebuch an. Höherkommen ist seitdem Programm. Höherkommen, um dem miefigen Milieu der sauerländischen Provinz zu entfliehen. Carl Schmitts Leben könnte getrost unter dem Rubrum „Eskapismus“ eingeordnet werden. Er träumt von der Ausflucht aus dem kleinbürgerlich-durchschnittlichen Allerweltsdasein. Die bescheidene Herkunft, der Makel eines 08/15-Namens und das Stigma seiner kleinwüchsigen Statur haben Schmitt massiv traumatisiert. Sein Ego ist von Minderwertigkeitsgefühlen und Ressentiments gepeinigt.
Wie aus seinen späteren Bekenntnisschriften hervorgeht, hadert Schmitt in der Nachkriegszeit mit seinem Schicksal als ein aus dem Bauch des Wales „ausgespieener Jonas“ und als „gejagtes Wild“. Er fühlt sich betrogen. Die Entlassung aus allen akademischen Ämtern und die selbst gewählte Verbannung in die Bedeutungslosigkeit seines Plettenberger Exils empfindet das einstige Aushängeschild der deutschen akademischen Jurisprudenz als höchst ungerecht. Jedoch versteht er dies durch Selbststilisierung zu kompensieren und sein „erlittenes“ Leid in Leistung zu transfigurieren. Schmitt ist auch ein kunstsinniger Schöngeist, selbst ernannter Hamlet und Othello. In Anbetracht seiner Lebensgeschichte jedoch eher eine tragische Figur Faustischen Zuschnitts, womöglich gar ein Benito Cereno, Kapitän eines Sklavenschiffs, der selber zum Sklaven wird. Schmitt entflieht in Kunstwelten von Meerschäumern und Landtretern. Er ist ein großartiger politischer Denker, dessen Reflexionen um die Ausnahme zentriert sind. Ein Virtuose des Wortes, der geniale Formulierer grandioser Schriften, wie dem „Begriff des Politischen“, der „Politischen Theologie“ oder des „Nomos der Erde“. Das ist der andere, unstreitbare und in Wahrheit viel interessantere Schmitt, der bei Mehring nicht zu kurz kommt.
In den Anfangsjahren der Bundesrepublik mutiert ein desillusionierter Schmitt zu so etwas wie einem Geheimorakel. Zahlreiche diskursprägende Persönlichkeiten aus diversen politischen Lagern – unter anderem „Spiegel“-Chef Rudolf Augstein – pilgern nach Plettenberg, um den weisen Alten zu hören.
Schmitt hat sich einmal humorvoll als „weißer Rabe, der auf keiner schwarzen Liste fehlt“ bezeichnet. Ob sich dies mit Mehrings fulminanter und gut recherchierter Biografie ändern wird, darf bezweifelt werden. Sie leistet aber einen wertvollen Beitrag zu einer wertfreien, realistischen Neubewertung von Person und Werk Carl Schmitts.
– Reinhard Mehring: Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. Eine Biographie. C. H. Beck Verlag, München 2009. 750 Seiten, 29,90 Euro.
Nicolas Stockhammer
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