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Von der britischen Surrealistin Catherine Yarrow ist die Papierarbeit "Black and Green Faced Figures" von 1935 zu sehen.
© Estate of Catherine Yarrow

HKW zeigt Kunst um 1930: Der geöffnete Blick

Das Haus der Kulturen der Welt umkreist Carl Einstein in der Ausstellung „Neolithische Kindheit“ – und die Kunst um 1930.

Kunst ohne Kontext, das war für den Kritiker Carl Einstein wie totes Gewebe. Der in Rheinland-Pfalz geborene jüdische Intellektuelle zog in der Weimarer Republik mit spitzer Feder über den „Schönheitsbetrieb“ Kunst her, wenn er feststellte, dass es dort vor allem um Formen und Stile ging. In seinem Band „Kunst des 20. Jahrhunderts“, den er erstmals 1926 veröffentlichte, beschreibt er recht deutlich, welche Kunst zur Wissensproduktion taugt und welche nur „blöde lächelt“. Und er hatte, produktiv wie er war, kein Problem damit, beim Denken immer wieder neu anzusetzen. Drei Auflagen seines Werks erschienen im Propyläen Verlag. Pries er in den ersten beiden Ausgaben den Kubismus als adäquaten Ausdruck der gesellschaftlichen Zustände, war es später der Surrealismus. Einstein akzeptierte, dass das Leben komplex und nicht in unabänderliche Kategorien zu pressen ist.

Eine Ausstellung im Haus der Kulturen der Welt liefert einen weitschweifenden Blick auf Einsteins Denken, das erst in jüngster Zeit wiederentdeckt wird. Gezeigt werden seine eigenen Schriften und Notizen, die der ab 1928 im Pariser Exil lebende Schriftsteller teils auch auf Französisch und Englisch verfasst hat, sowie unzählige Werke und Texte seiner Zeitgenossen. Aufgelockert wird der theoretische, ja, man darf ruhig sagen, Exzess durch eine in den Ausstellungsraum gezogene Wand, die mit Bildern bekannter und weniger bekannter Surrealisten bestückt ist.

Neben Werken von Paul Klee, Käthe Kollwitz, Willi Baumeister, Georges Braque, Max Ernst und André Masson sind auch Zeichnungen etwa der britischen Surrealistin Catherine Yarrow oder des Magdeburgers Richard Oelze zu entdecken. Diese sinnlichen Perlen kann der Besucher sich über einen Steg erlaufen. Nicht ohne Grund erinnert das Setting an eine archäologische Ausgrabungsstätte. Einstein wollte, wie viele andere Avantgardisten und Wissenschaftler in der aus den Fugen geratenen Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, die Urgeschichte der Menschheit an die Gegenwart binden. Das greift die Ausstellung auch architektonisch auf.

Carl Einsteins Denken ist auch nach über 80 Jahren noch aktuell

Auch der Titel der Schau verweist darauf: „Neolithische Kindheit. Kunst in einer falschen Gegenwart, ca. 1930“. Einstein hat die Formulierung „Neolithische Kindheit“ für die Werke von Hans Arp geprägt. Das Neolithikum und die Kindheit galten ihm als Daseinsbereiche, in denen Mensch und Natur noch in Kontakt sind.

Carl Einsteins Denken ist deshalb so aktuell, weil er sich nicht mit einer Kunstgeschichte der Moderne zufriedengeben wollte, die im 18. Jahrhundert beginnt und sich ausschließlich mit den Hervorbringungen der westlichen Welt beschäftigt. Der Schriftsteller, der ab 1903 einige Semester in Berlin studierte, hatte sich Wissen über die Kulturen Afrikas und Ozeaniens angeeignet. 1915 veröffentlichte er die Studie „Negerplastik“, in der er afrikanische Kunst ideologiefrei und jenseits ethnozentrischer Vorurteile untersuchte und mit dem Kubismus kurzschloss. Das Buch stieß auf großes Interesse und veränderte den Blick seiner Zeitgenossen auf die afrikanische Kunst.

Am dekolonialen Blick und einer fruchtbaren Kritik am Eurozentrismus arbeiten wir bis heute – mitunter mit Schweiß und Tränen. Das Haus der Kulturen der Welt hat dazu viele Beiträge geleistet, unter anderem mit der Projektreihe „Kanonfragen“, zu der die Einstein-Ausstellung gehört. Auch andere Berliner Institutionen beginnen, westlich geprägte Kunstauffassungen zu hinterfragen. Mit „Hello World. Revision einer Sammlung“ untersucht der Hamburger Bahnhof, wie die Bestände der Nationalgalerie aussehen würden, wenn es seit Sammlungsbeginn ein globales Kunstverständnis gegeben hätte (ab 28. 4.). Im Humboldt-Forum wird an einer Präsentation des Ethnologischen und Asiatischen Museums gearbeitet, die Deutungen aus den Herkunftsländern einschließt. Einstein kann als Impulsgeber dafür gelten.

Mit seinen Aufsätzen animierte Einstein zum Diskurs über "primitive" Kulturen

Sein geschichts- und erkenntnistheoretisches Denken ist untrennbar mit den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Krisen der Zwischenkriegszeit verbunden – die teils den Problemlagen von heute ähneln. Europa hatte sich nach dem Ersten Weltkrieg als Zivilisationsprojekt delegitimiert. Massenarbeitslosigkeit, Wirtschaftskrisen und der Verlust einer verbindenden Kollektivität durch Arbeitsteilung und Industrialisierung verunsicherten die Menschen.

Die Gewalt des Kolonialismus strahlte unbehaglich in die heimischen Stuben hinein. Aus ehemaligen oder noch bestehenden Kolonien drangen bereits Stimmen mit alternativen, eigenen Weltdeutungen nach Deutschland – wie sie auch im dritten Teil der Ausstellung zu sehen sind. In dieser Phase des sozialen und politischen Auseinanderdriftens stießen Diskurse über vormoderne, „primitive“ Kulturen, über die „Tiefenzeit der Menschheit“, Archaik und Prähistorie auf vermehrtes Interesse. Die Ausstellung zeigt, wie Einstein mit Aufsätzen und eigenen Zeitschriften wie „Documents“ aktiv dazu beitrug.

Der erste Abschnitt der Schau zentriert sich um das große Projekt Einsteins, das „Handbuch der Kunst“, eine auf fünf Bände angelegte „Funktionsgeschichte der Weltkunst“, an der er seit Beginn der 1930er intensiver arbeitete. Mit ihr wollte er Kunst in allen Wissensbereichen und Zeitschichten verorten. Das Werk blieb unvollendet. Einstein fehlte die Zeit. 1928 emigrierte er nach Paris. 1936 zog er in den Spanischen Bürgerkrieg, kämpfte aufseiten der spanischen Anarchisten in der Kolonne Durrutti, wo er selbst Schlachtpläne erstellte.

Später wurde er in Frankreich interniert. Nach seiner Freilassung musste er vor den deutschen Besatzern fliehen und nahm sich 1940 in den Pyrenäen das Leben. Die Ausstellung zeigt 47 Blätter mit Notizen für das „Handbuch der Kunst“. Sie stammen aus dem Einstein-Nachlass, der im Archiv der Berliner Akademie der Künste lagert und anlässlich der Ausstellung digitalisiert wurde.

Mit rund 800 Exponaten ist die Ausstellung eine Tour de force

Rund 800 Exponate sind im Haus der Kulturen versammelt, der größte Teil liegt in Vitrinen: ethnologische Bücher, Zeitschriften, kunsthistorische Aufsätze, politische Pamphlete, soziologische und philosophische Literatur, Texte zur Biologie. In einzelne Themenblöcke gruppiert liegen Aufsätze zur „Krise“ von Jean-Jacques Rousseau bis Max Horkheimer, Forschungen zur indigenen Kunst, Reflektionen über ethnologische Museen, Schriften von Kritikern aus nichtwestlichen Ländern, etwa vom Hindu-Lehrer und Mitbegründer der indischen Unabhängigkeitsbewegung Sri Aurobindo. Dazu kommt eine Sammlung an enzyklopädischen Kunstbildbänden des 20. Jahrhunderts, die sich in der Weimarer Zeit prächtig verkauften und in denen auch Einstein veröffentlicht hat, etwa die 24-teilige „Propyläen Kunstgeschichte“. Das ist eine Menge Holz – und erst der Anfang der Schau.

Der zweite Teil der Ausstellung beginnt mit Einsteins Begriff der „Subjekt/Objekt-Funktion“. Darin schließt der Theoretiker die in der Moderne behauptete Kluft zwischen Subjekt und Objekt, indem er die Kunst dazwischen stellt. Die surrealistischen Bilder mit ihren Bezügen zu Träumen, Halluzinationen, mit ihren Verschmelzungsfantasien und beseelten Dingen kann man als Anschauungsmaterial dafür lesen.

Im dritten Teil der Ausstellung kommen schließlich die Schriften und Pamphlete von Widerstandskämpfern und Avantgardisten sowie aus ehemaligen Kolonien und der daraus erwachsenen Diaspora zur Ansicht. Die Ausstellung ist absichtlich nicht als monografische Abhandlung zu Einstein angelegt, sondern als offenes Netzwerk, um dem Arbeitsprinzip Einsteins gerecht zu werden.

„Assoziative Entgrenzung“ lautet das Stichwort der Kuratoren – was die mäandernde Wissensflut recht gut beschreibt. Die vielfach vernetzten Diskurse werden dabei in ihrer Widersprüchlichkeit stehen gelassen. Das versammelte Material ist kaum zu erfassen, die Auswahl schwierig zu bewerten. Das ist auch den Machern der Ausstellung bewusst. Und so berechtigt der Kauf eines Tickets zum zweimalige Eintritt in die Ausstellung.

Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10, bis 9. 7.; Mi–Mo 11–19 Uhr.

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