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Philosophie in Holz. Nachbau der Hütte am Walden-See bei Concord, in der Henry David Thoreau zwei Jahre, zwei Monate und zwei Tage wohnte. Es war keine Emeritage, der Autor bekam beinahe täglich Besuch.
© Frank C. Curtin/picture-alliance/AP

Henry David Thoreaus 200. Geburtstag: Der Dichterprediger im Wald

Henry David Thoreau war Freigeist und Literat. Mit einer Hütte am See erklärt er seine Unabhängigkeit und prägt ein auf die Natur besonnenes Denken. Vor 200 Jahren wurde er geboren.

Die Hütte ist fast schon ein Haus. Man könnte auch sagen: ein Hauptquartier. Nur 15 Quadratmeter groß, verfügt sie über einen kleinen Keller und Dachboden, zwei große Fenster an den Längsseiten sowie eine gemauerte Feuerstelle. Im lehmverputzten und gekalkten Innenraum stehen Bett, Tisch, Schreibpult und drei Stühle für Besucher. Der Mann, der hier leben will, hat sie selbst gebaut.

Ein Großteil der Bretter stammt aus der Baracke eines Eisenbahnarbeiters, die er für ein paar Dollar kaufte und ausschlachtete. Gleichzeitig legte er ein zweieinhalb Morgen großes Feld an, auf dem er Bohnen, Kartoffeln, Mais, Erbsen und Rüben pflanzt. Am 4. Juli 1845, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag, zieht Henry David Thoreau ein. Er wird zwei Jahre, zwei Monate und zwei Tage in der Blockhütte bleiben, die malerisch am Walden-See im Bundesstaat Massachusetts liegt. Das Grundstück gehört dem Freund Ralph Waldo Emerson.

Er will mit Bedacht leben

Thoreau flieht. Und schlägt einen Weg ein, dem bis heute viele folgen werden, Aussteiger, Umweltbewegte, Verächter der Moderne. Er will die Zivilisation hinter sich lassen, wenigstens auf Zeit. Und in der Natur den wahren Sinn des Lebens finden. „Ich bin in den Wald gegangen, weil mir daran lag, mit Bedacht zu leben, es nur mit den Grundtatsachen des Daseins zu tun zu haben und zu sehen, ob ich nicht lernen könne, was es zu lernen gibt, damit mir in der Stunde des Todes die Entdeckung erspart bleibe, nicht gelebt zu haben“, so lauten die berühmtesten Zeilen aus seinem programmatischen Buch „Walden oder Hüttenleben im Walde“.

Thoreau wird vor 200 Jahren, am 12. Juli 1817 in Concord geboren, einem Städtchen mit heute 17 000 Einwohnern, zu dem auch der Walden-See gehört. Seine Eltern betreiben eine Bleistiftmanufaktur, mit der es die Familie zu mittlerem Wohlstand bringt. Der Ort wird später als „American Bloomsbury“ gelten, viele Literaten leben dort, auch Emerson, Thoreaus 14 Jahre älterer Förderer und Mitbegründer des Transzendentalismus, einer philosophischen Schule, die sich sowohl gegen die Kirchen als auch gegen Materialismus und Sklaverei richtet.

Die Metropole New York ekelt ihn an

Thoreau bricht zu ausgedehnten Reisen bis nach Kanada auf und lebt ein paar Monate als Hauslehrer auf Staten Island. Doch die Nähe zur rasant wachsenden Metropole New York ekelt ihn geradezu an. „Die Schweine auf der Straße sind hier noch der respektabelste Teil der Bevölkerung“, schreibt er an Emerson. „Wann wird die Welt lernen, dass eine Million Menschen ohne Bedeutung sind, verglichen mit einem Menschen?“ Daraus spricht eine tiefe Verachtung der modernen Massengesellschaften und das Bewusstsein, dass es Menschen gibt, die auserwählt sind, die Wahrheit zu erkennen und weiterzugeben. Eine Rolle, die der Selbstdenker, der sich zum Waldläufer stilisiert, gerne ausfüllt.

Nach Concord ist Thoreau immer wieder zurückgekehrt. Um mit seinem Bruder eine reformpädagogische Privatschule zu betreiben, um in der Bleistiftproduktion auszuhelfen, zuletzt um als Dichtergelehrter Aufsätze für Zeitschriften zu liefern und auf Vortragsreisen zu gehen. Der Harvard-Absolvent ist ein großer Humanist, jedenfalls, wenn er es mit wenig Menschen zu tun hat. Einen lukrativen Job als Lehrer mit einer Bezahlung von 500 Dollar, damals dem doppelten Durchschnittsjahresgehalt, wirft er hin, weil die Schulleitung ihn zur Anwendung der Prügelstrafe aufgefordert hat.

Sein Essay über friedlichen Widerstand beflügelt Geistesgrößen von Gandhi bis Mandela

Man könne „die Kuhpeitsche als einen elektrischen Leiter betrachten“, spottet Thoreau. Doch „anders als beim elektrischen Draht ist meiner Ansicht nach kein einziger Wahrheitsfunke jemals durch ihre Hilfe dem schlummernden Intellekt, dem sie adressiert war, übertragen worden“. Der flammende Tonfall wird in späteren Einlassungen zu politischen Tagesfragen wiederkehren, etwa in seinem Essay „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“, der den friedlichen Widerstand von Gandhi, Martin Luther King und Mandela beflügeln sollte.

Thoreau ist ein Weltgeist und gleichzeitig der Besinger von Nähe und Heimat, der mit Verve über das schreibt, was er aus eigener Anschauung kennt. „Bin ich nicht aus Concorder Staub gemacht?“, fragt er während des Intermezzos auf Staten Island. „Ich kann mir nicht wirklich vorstellen, dass es das Rauschen des Meeres ist, was ich jetzt höre, und nicht der Wind in den Wäldern von Walden.“

Wenig Geld, viel Zeit zum Nachdenken

Thoreau zieht in die Waldeinsamkeit – aber sein Domizil wird nicht zur Emeritage. In seiner Hütte, bilanziert der Autor, habe er mehr Besucher gehabt „als zu irgendeiner anderen Zeit meines Lebens“. Unter den Gästen sind die Schriftstellerfreunde Nathaniel Hawthorne und William Channing, auch einige seiner ehemaligen Schüler, mit denen Thoreau nach Murmeltierhöhlen sucht und Ruderfahrten unternimmt. Und jeden Samstag kommen seine Mutter oder eine der Schwestern mit einem Fresskorb. Das wenige Geld, das er benötigt, verdient der Grenzgänger als Anstreicher, Zimmermann, Gärtner oder Landvermesser – ein Job, mit dem er später den Großteil seines Lebensunterhalts bestreiten wird.

Der Umzug in die Natur ist ein „kalkuliertes lebensphilosophisches Experiment und zugleich ein Kunstprojekt“, schreibt Frank Schäfer in seiner exzellenten Biografie über den „Waldgänger und Rebellen“. Thoreau führte seit 1837 Tagebuch, über eine Wanderung, die er mit einem Freund zum Mount Wachusett unternahm, hatte er bereits ein Buch veröffentlicht, so war klar, dass er auch den Aufenthalt in den Wäldern autofiktional verarbeiten würde.

In Walden, behauptet Thoreau, habe er Demut und Bescheidenheit gelernt. Bereits im zweiten Jahr reduziert er die Größe seines Feldes auf ein Drittel Morgen. Mehr braucht er nicht. „Wenn jemand einfach leben und nur das verzehren will, was er selber baut“, müsse er „nur ein paar Quadratmeter Grund“ bepflanzen. Statt mit Arbeit kann der Selbsternährer seine übrige Zeit mit Nachdenken, Dösen, Philosophieren und Schreiben verbringen. Ein Idyll, das an Marx’ Utopie einer künftigen Welt erinnert, in der die Menschen „heute dies, morgen jenes tun, morgens jagen, nachmittags fischen, abends Viehzucht treiben“.

Er inspiriert die Reformbewegung, die Beatniks und Hippies

Thoreau arbeitet lange an dem Buch, erst mit der siebten Manuskriptfassung ist er zufrieden. „Walden“ erscheint 1854, acht Jahre nach der Rückkehr des Autors in eine menschliche Siedlung. Als die Erstauflage von 2000 Exemplaren verkauft ist, bringt der Verlag 1862 eine Neuausgabe heraus. Seitdem ist das Buch lieferbar geblieben. Sein Erfolg beginnt langsam, dann wird er gewaltig. Geschrieben in einer detailverliebten, lyrisch aufgeladenen Sprache, reiht „Walden“ Bekenntnisse, Geistesblitze und Aphorismen aneinander. „Warum haben wir es alle so verzweifelt eilig, zu Erfolg zu kommen?“, fragt Thoreau. „Wenn einer nicht Schritt hält mit den anderen, rührt das vielleicht daher, dass er auf einen anderen Trommler hört.“

Thoreau, der 1862 starb, thront längst im Olymp der amerikanischen Literaturgeschichte. In den USA erscheinen über ihn so viele Bücher wie über Goethe in Deutschland. Die Reformbewegung, Beatniks und Hippies haben den Dichterprediger für sich entdeckt. Else Lasker-Schüler gab ihrem Ehemann einen Namen, mit dem er zu einem der erfolgreichen Avantgarde-Galeristen aufstieg: Herwarth Walden. Aber neben Dadaisten, Kohlrabi-Jüngern und Weltverbesserern haben sich auch rechte Zivilisationszweifler auf Thoreau berufen. Wenn sogenannte Preppers sich in der amerikanischen Provinz mit Lebensmittelvorräten und Waffen einbunkern, um vorbereitet zu sein auf den bevorstehenden Weltuntergang, dann haben sie gewissermaßen „Walden“ im Bordgepäck. Thoreau bleibt gefährlich.

Henry David Thoreau. Waldgänger und Rebell. Biographie von Frank Schäfer. Suhrkamp, Berlin 2017. 253 S., 16,95 €.

Tagebücher I/Tagebücher II von Henry David Thoreau. Matthes & Seitz, Berlin 2016/17. 326/377 S., je 26,90 €.

Ktaadn. Die Natur als großes Ereignis, und der Mensch als ihr Teil von H. D. Thoreau. Jung und Jung, Salzburg 2017. 160 S., 20 €.

Christian Schröder

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