Martin Luther King zu Besuch in Berlin: Ohne Pass in den Osten
50 Jahre ist es her, dass Martin Luther King das geteilte Berlin besuchte. Über die Grenze gelangte er auf höchst ungewöhnliche Weise - und wurde begeistert empfangen.
Keine Chance in der Marienkirche. Schon lange bevor Martin Luther King dort predigen soll, am Abend des 13. September 1964, ist das Gotteshaus völlig überfüllt. Aber plötzlich heißt es, der Bürgerrechtler aus den Vereinigten Staaten werde danach noch einmal in der Sophienkirche sprechen. Also eilen der 15-jährige Hans-Joachim Kolpin und sein Freund in die Große Hamburger Straße, finden tatsächlich zwei freie Plätze, direkt unter der Kanzel. Erleben mit, wie King erneut zu „my dear Christian friends of East Berlin“ spricht und Grüße überbringt von „your Christian brothers and sisters of West-Berlin“ sowie von den Christen seiner Heimat. Eine sehr emotional, gestenreich vorgetragene Predigt. Auf Englisch, das verstehen sie nicht, und es gibt zwar einen Übersetzer, aber der trägt alles ganz emotionslos vor. Trotzdem hört Kolpin gebannt zu, ist es ein beeindruckendes Erlebnis auch unabhängig von der Botschaft. Allein dass der berühmte Schwarze privat Ost-Berlin besucht hat! Schwarze? Gibt es in Ost-Berlin doch gar nicht.
Nach der Predigt geht das Gedränge erneut los, alle wollen dem Besucher die Hand schütteln, ein Autogramm bekommen, auch Hans-Joachim und sein Freund. In der Kirche aussichtslos. Also raus, die Stichstraße runter bis zum Tor, und als der Wagen, ein schwarzer Mercedes, heranrollt, stellen sie sich einfach davor. Kess, aber erfolgreich: Martin Luther King kurbelt sein Fenster herunter, steigt sogar aus, und jeder der beiden bekommt sein Autogramm, samt Händedruck zum Abschied. Für King gibt es sogar noch einen symbolischen „roten Teppich“: das Taschentuch, das Kolpins Freund spontan hervorzieht und vor dem Auto ausbreitet, in dem der amüsierte, vielleicht auch gerührte Bürgerrechtler davonrollt.
Willy Brandt hatte den Besuch arrangiert
Das Autogramm besitzt der 65-jährige Kolpin noch heute, gerahmt hinter Glas, öffentlich gesprochen hat er über seine Begegnung mit dem berühmten Bürgerrechtler noch nie. Aber deren 50. Jahrestag ist für ihn eine gute Gelegenheit, damit anzufangen, als Zeitzeuge bei einem Spaziergang, der zu den mit King verbundenen Orten in Ost-Berlin führt. Er ist Teil des Jubiläumsprogramms zum 50. Jahrestag von Kings einziger Berlin-Visite, die vom 12. bis 14. September 1964 dauerte und für die Ost-Berliner, wenngleich in weitaus kleinerem, inoffiziellem Rahmen, die gleiche Bedeutung gehabt haben muss wie im Jahr zuvor der Besuch der Kennedys für den Westteil der Stadt.
Arrangiert hatte den Besuch Willy Brandt, der 1961, noch vor dem Mauerbau, King in den USA kennengelernt und nach West-Berlin eingeladen hatte. Ein passender Anlass wurde mit der Eröffnung der 14. Berliner Festwochen gefunden, die sich nach den Worten ihres Intendanten Nicolas Nabokov „der Wechselwirkung zwischen der Kultur des Abendlandes und des schwarzen Afrikas“ widmen sollten. Martin Luther King war als Gastredner geladen, sollte im Mittelpunkt einer Veranstaltung in der Waldbühne zum „Tag der Kirche“ stehen, Motto: „Überall ist Kain und Abel“.
Am 12. September, einem Sonnabend, war King in Tempelhof eingetroffen. Am Nachmittag absolvierte er eine Pressekonferenz, in der sich die ausländischen Korrespondenten vor allem für seine Meinung zu den anstehenden US-Präsidentschaftswahlen interessierten, er aber auch nach den bekannt gewordenen Plänen für die Predigt in der Marienkirche befragt wurde. Er muss danach wohl noch Zeit für einen Besuch an der Mauer in der Bernauer Straße gefunden haben. Ein Foto zeigt ihn mit seinem Weggefährten Ralph Abernathy vor dem Todesstreifen.
King zu den Schüssen an der Grenze: "Unfassbar"
Die Schrecken der Mauer sollte King noch eindringlicher am folgenden Tag erfahren: In den frühen Morgenstunden kam es an der Kreuzberger Stallschreiberstraße zu einem schweren Zwischenfall. Ein 21-Jähriger hatte die Grenzanlagen zu überwinden versucht, war von DDR-Grenzern entdeckt, unter Feuer genommen und mehrfach getroffen worden. Er brach zusammen, versuchte sich weiterzuschleppen – wieder wurde geschossen. Kugeln trafen auch Wohnhäuser, woraufhin West-Polizisten das Feuer erwiderten. Gerettet wurde der Flüchtling schließlich durch den beherzten, nachträglich vom Vorgesetzten gebilligten Einsatz eines US-Militärpolizisten, der die Grenzer mit einer Nebelgranate und gezückter Pistole auf Abstand hielt und den Angeschossenen mit einer Seilschlinge über die Mauer zog.
Auch Martin Luther King hatte von dem Zwischenfall erfahren, war am Vormittag danach in die Stallschreiberstraße geeilt, hatte die 28 Einschusslöcher in Haus Nr. 42 besichtigt und die Schäden in einer Wohnung, in die ebenfalls Kugeln eingeschlagen waren. „Unfassbar“, sagte er danach und mahnte, der Vorfall zeige, wie wichtig die internationale Entspannungspolitik sei.
Es muss für ihn ein Sonntag mit übervollem Programm gewesen sein: Vormittags Eröffnung der Festwochen in der im Vorjahr eröffneten Philharmonie, eine Veranstaltung, die zugleich dem Gedenken an den ermordeten US-Präsidenten John F. Kennedy gewidmet war; später die Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Kirchliche Hochschule Berlin, im Rathaus Schöneberg die Eintragung ins Goldene Buch der Stadt, nachmittags seine Rede in der Waldbühne vor rund 20 000 Menschen, abends der Besuch in Ost-Berlin.
Gospel in der Marienkirche: "Let my people go"
Der war inoffiziell, bei den DDR-Behörden nicht angekündigt – aber die hätten es wissen müssen: Auch der Tagesspiegel hatte am selben Tag berichtet, dass King, eingeladen von Probst Heinrich Grüber, in der Kirche predigen wolle. Trotzdem waren die Grenzer am Checkpoint Charlie völlig perplex, als King am Abend plötzlich Einlass begehrte. Dazu ohne Pass, den ihm die US-Behörden, denen die Ost-Visite gar nicht recht war, abgenommen hatten. Aber man erkannte ihn, und nach einer halbstündigen Verzögerung, in der die Grenzer sich erst an höherer Stelle absicherten, durfte King in den Osten. Er müsse sich nur irgendwie ausweisen, forderte man. Das tat der Besucher: mit seiner American-Express-Kreditkarte.
Er werde in seiner Predigt nicht auf die politische Situation eingehen, hatte King am Vortag auf der Pressekonferenz gesagt. Direkt tat er das auch nicht, hatte ohnehin keine neue Rede vorbereitet, sondern hielt die aus der Waldbühne fast wörtlich noch einmal. Aber es war doch leicht, seine Worte politisch zu verstehen, zumal nach der Begrüßung in der Marienkirche der Chor mit dem Spiritual „Go down Moses“ und der immer wieder gesungenen Zeile „Let my people go“ einsetzte. Es sei „eine Ehre, in dieser Stadt zu sein, die ein Symbol der Trennung von Menschen auf der Erde ist“, sagte King. „Auf beiden Seiten der Mauer sind Gottes Kinder, und keine von Menschen gemachte Absperrung kann diese Tatsache auslöschen.“ Einen Rat hatte er nicht zu bieten: „Ich bin nicht lange genug hier, um Gottes Plan für euch und seinen Ruf an euch zu erkennen. Aber ich würde gerne mit euch den Geist teilen, der uns in unserem Freiheitskampf im Süden der Vereinigten Staaten bewegt.“
Die Staatsorgane halten sich zurück
Mehr als 4000 Zuhörer, darunter auffallend viele Jugendliche, hätten den Worten Kings in Ost-Berlin gelauscht, schrieb danach der Tagesspiegel. Für den Bürgerrechtler war der Tag im Evangelischen Hospiz an der Albrechtstraße 8, Ecke Marienstraße in Mitte ausgeklungen, dem heutigen, nahe dem Bahnhof Friedrichstraße gelegenen Hotel Albrechtshof. Es gab Wein, einen Imbiss und Gespräche mit den Ost-Berliner Kirchenleuten. Kurz vor Mitternacht ging es über den Checkpoint Charlie zurück in den Westen, die Grenzer machten keine Probleme. Schon bei den Gottesdiensten, so erinnert sich Hans-Joachim Kolpin, hatten sich die Staatsorgane zurückgehalten. Kein Vopo, nirgends.
Fast ein Wunder.
Die Stadt Berlin erinnert mit zahlreichen Veranstaltungen an den Besuch von Martin Luther King vor 50 Jahren - hier stellen wir einige vor.