Von Drafi Deutscher bis Helene Fischer: Der deutsche Schlager - eine Reise durch den Schmalz
Einst öffnete der Schlager den Deutschen die Welt. Dann kamen die Beatles. Der deutsche Schlager wurde verlacht. Inzwischen singt Helene Fischer mit den Weltmeistern.
Vorab zwei Warnungen. Helene Fischer kommt erst am Schluss dieser Überlegungen vor. Auch wenn gerade sie den Schlager wieder salonfähig gemacht hat und Anlass ist für ein paar grundlegende Gedanken zum Schlager. Und zweitens: Schlagerfan zu sein ist etwas sehr Elitäres, mindestens so elitär wie bekennender Free-Jazz-Fan oder Freund der Neuen Musik. Hohn und Spott ist noch das Mindeste, was er ertragen muss. Der Schlagerfan muss das Spießrutenlaufen der Schlagerhasser – und das ist die Mehrheit – durchlaufen.
„Deutsche Chansons heißen Schlager, weil sie einen in die Flucht schlagen“, schreibt der Journalist Wolfram Weidner, und der Dichter Peter Rühmkorf sekundiert: „verbrecherische Volksverdummung“. Selbst der große Jacques Tati hält vom Schlager, der übrigens im Französischen „Varité“ heißt und sich vom Chanson unterscheidet, nicht viel, weil „Schlagersänger, das sind Leute, die immer schon Gesangsunterricht nehmen wollten, aber niemals dazu gekommen sind, und die es jetzt bleiben lassen, weil sie inzwischen berühmt geworden sind.“
Rainer Moritz, der Leiter des Literaturhauses Hamburg, schreibt in seinem Buch über den Schlager: „Der Schlager geht, ohne Frage, in der Regel den leichtesten Weg.“
Gesang mit fremdländischem Akzent war eine Art Marshallplan des Gemüts
Aber genau das ist sein großer Vorteil. Er setzt nichts voraus und deshalb dringt er wie ein Virus in unser kollektives Unterbewusstsein ein und zeichnet gleichzeitig ein sehr genaues Bild der Epoche. Der Schlager ist eine Zeitmaschine: Erst wird er nicht wahrgenommen, dann wird er ein Ohrwurm und schließlich ein Jungbrunnen. Er ist eine Sonde in die jeweilige Epoche und in unseren Seelenhaushalt. Nehmen wir ein Beispiel: 1960 sang Connie Francis „Die Liebe ist ein seltsames Spiel, sie kommt und geht von einem zum anderen. Sie nimmt uns alles, doch sie gibt auch viel zu viel, die Liebe ist ein seltsames Spiel.“ Bedenkenlos dahingedichtet ist der Text bis heute auf der Höhe der Zeit. Die Liebe ist nichts Dauerndes und etwas Paradoxes: Sie nimmt uns alles, doch sie gibt uns viel zu viel. Der Soziologe Niklas Luhmann hat in seinem Buch „Liebe als Passion“ dargelegt, dass es immerwährende Liebe nur in den Briefen der Romantik gab. Und die Soziobiologen ordnen uns Menschen irgendwo zwischen den monogamen Orang-Utans und den perversen Bonobos ein. Bleiben wir in der Nachkriegszeit und wagen eine erste These: Die Schlagersänger meiner Jugend waren Gastarbeiter. Der Gesang mit fremdländischem Akzent war eine Art Marshallplan des Gemüts.
Bill Ramsey (Amerikaner): „Pigalle, Pigalle, das ist die große Mausefalle mitten in Paris“. Ivo Robic (Jugoslawe): „Morgen, morgen wird das alles vergehen, morgen, morgen wird das Leben endlich wieder schön“. Dann Gus Backus (Amerikaner): „Da sprach der alte Häuptling der Indianer“. 1960 sprach der Künstler kein Wort Deutsch. Bruce Low (Niederländer in Surinam geboren): „Es hängt ein Pferdehalfter an der Wand“. Alma Cogan (Engländerin): „Sie tanzten zu zweit nach dem Tenn, Tenn, Tennessywalz“. Oder Cliff Richard (Engländer in Indien geboren): „Rote Lippen soll man küssen“.
Kurz: Der Schlager brachte mit seinen Interpreten die weite Welt ins miefige Adenauer-Deutschland. Im Rahmen der Gesetze. Cliff Richards „Rote Lippen soll man küssen“ erzählt eine heikle Geschichte. Ein junger Mann trifft ein allein reisendes junges Mädchen im letzten Autobus. Er geht auf sie zu und gibt ihr einen Kuss. Sehr übergriffig. Aber alles wird gut. Das junge Mädchen wird seine Frau, und sie bekommen eine Tochter, mit roten Lippen natürlich.
Schlager mit geradezu dadaistischen Texten
Wo kommt der Schlager eigentlich her und warum heißt er Schlager? Ein erster Nachweis des Begriffs Schlager findet sich im „Wiener Fremdenblatt“ vom 17. Februar 1867. Anlässlich der Uraufführung des Walzers „An der schönen blauen Donau“ heißt es dort: „Die Eröffnungsnummer der zweiten Abteilung war ein entschiedener Schlager.“
Mit der Erfindung des Grammofons und der Filmindustrie wurde der Schlager ein Produkt der Industriegesellschaft oder wie es Theodor W. Adorno formuliert: der „Kulturindustrie“. Er giftet: „Schlager beliefern die zwischen Betrieb und Reproduktion der Arbeitskraft Eingespannten mit Ersatz für Gefühle überhaupt, von denen ihr zeitgemäß revidiertes Ich-Ideal sagt, sie müssten sie haben.“ Starker Tobak. Und stimmt das überhaupt? Oder ist es nicht nur eine zynische Behauptung, die das eigene Leben immer unter das Verdikt des Negativen stellt. Dagegen könnte man einwenden: Im Schlager werden die kollektiven Sehnsüchte einer Epoche als durchaus wahrhaftige thematisiert. Mit Erscheinen des Tonfilms in den 1920er Jahren entstanden Schlager mit geradezu dadaistischen Texten. „Was macht der Mayer am Himalaya“, „Mein Onkel Bumba aus Kulumba“. „Mein Papageier frisst keine harten Eier“. Max Raabe feiert mit diesen verwehten Schlagern bis heute Erfolge als „Historiensänger“.
Und nach den Durchhalteparolen des sogenannten Dritten Reichs mit Heinz Rühmann („Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern“) oder Zarah Leander („Ich weiß, es wird noch mal ein Wunder geschehen“) endlich Süden, Sonne, Meer, die Welt steht offen. Rocco Granata: „Marina, Marina“. Catarina Valente: „Ciao, ciao Bambina“. Und René Carol erhielt mit „Rote Rosen, rote Lippen, roter Wein“ die erste Goldene Schallplatte der Nachkriegszeit.
Schlager haben Heilkraft
Als Schüler hörten wir Radio Luxemburg mit Camillo Felgen und führten ganz penibel die Hitlisten. Allerdings wurde meine Schlagereuphorie doch ein wenig getrübt, als ich Jahrzehnte später immer durch das Berliner Hitparaden-Studio in der Oberlandstraße musste, um in mein „Nachtstudio“ zu gelangen, da war ich schockiert. Wie gelangweilt, unscheinbar und verschwitzt die Schlagerstars da warteten, bis der Magier nach einem aufmunternden Schnäpschen seine krächzende Stimme erschallen ließ: „Hier ist das ZDF mit der Hitparade.“ Schrecklich.
Wagen wir eine neuerliche These: Schlager haben Heilkraft. Betrachten wir uns die menschliche Existenz, so stehen wir vor dem Problem der Endlichkeit, erzittern vor den Irrungen und Wirrungen der Liebe, leiden unter Verlusten in der Vergangenheit und starren mit Angstlust auf die Zukunft. All das konzentriert sich im Schlager. Rainer Moritz hat richtig erkannt: „Im Schlager verdichtet sich die Ernst Bloch’sche Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen.“ Und ist es ein Zufall, dass Ivo Robics „Morgen“ und Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung“ im gleichen Jahr erscheinen? Wo Robic draufsteht, steckt Bloch drin. „Morgen kommt die schöne Zeit zu uns zurück.“
Niemand leugnet die Kraft der Musik. Dem Mozartkenner wird die Zauberflöte den therapeutischen Mehrwert liefern, dem Jazzliebhaber die Blue Notes von Miles Davis, dem Rocker „Smoke on the water“. Der Schlager aber, auf seine massenhafte Verbreitung und Akzeptanz von Anfang an angelegt, schafft es auch in Notsituationen, sich nicht nur an die eigene individuelle Geschichte zu erinnern, sondern an die Zeiten einer gemeinschaftlichen Erfahrung. Und ich muss gestehen, wenn ich „Heißer Sand“ von Mina höre oder selber singe, geht es mir schon mal wieder viel besser. Weil alles rätselhaft bleibt: „Schwarzer Tino, deine Nina war beim Rocco schon im Wort. Weil den Rocco sie nun fanden, schwarzer Tino musst du fort.“ Was ist da geschehen? Anscheinend traditionale Heiratsrituale, dann Mord und Totschlag aus Eifersucht? Neid? Was wissen die Wellen von Tino? Hat er sich umgebracht? Wer weiß was von Tino? Angeblich jeder. Vielleicht ist er ja nur weggerannt – als Gastarbeiter nach Deutschland. Wir wissen es nicht.
Es gibt niemanden, der nicht vom Schlager infiziert ist
Aber wie paradox: Kaum wird der Schlager gegrölt, hebt sich die Stimmung. Übrigens ist „Heißer Sand“ einer der wenigen Schlager, in denen eine Geschichte erzählt wird. Das war auch das Geheimnis von Udo Jürgens, dem Richard von Weizsäcker der Schlagersänger. Ob „Griechischer Wein“ oder „Ich war noch niemals in New York“, das waren gesungene Erzählungen.
Aber im Sinne der musikalischen Hochstimmungsmache ist einer unschlagbar: Drafi Deutscher. 1966 ertönte: „Marmor, Stein und Eisen bricht, aber unsere Liebe nicht.“ Dem Textdichter Rudolf-Günter Loose sollte man die Füße küssen für seinen Wagemut, die subkutane Kraft des Schlagers aus nachsingbarer Melodie und leicht zu lernendem Text höher zu schätzen als die deutsche Grammatik: Man stelle sich nur mal vor, Drafi hätte korrekt gesungen: „Marmor, Stein und Eisen brechen, gib mir deinen Liebesrechen“. Undenkbar.
Nicht zuletzt ist die Parodiefähigkeit des Schlagers – lange vor Guildo Horn –, seine freiwillige und unfreiwillige Komik immer ein Impuls des positiven Denkens. Lachen ist gesund. Sexanspielungen bei Heidi Brühl: „Oh, oh, oh, wann kommst du“ Oder „Wir wollen niemals auseinandergeh’n“. Oder die Bernd-Clüver-Parodie: „Der Junge mit dem Hund von Monika“. Die Michael-Holm-Parodie: „Dänen lügen nicht“. Die Parodie hat die Reichweite der Schlager enorm erhöht. Deshalb die nächste These: Es gibt keinen Menschen, der nicht vom Schlager irgendwie infiziert ist.
Die Beatles machten dem Schlager den Garaus
Da muss ich aus meinem Privatleben erzählen. Als ich junger Revolutionär und Soziologiestudent in der aufregenden Stadt Frankfurt am Main war, ging es dort alles andere als gemütlich zu. Tagsüber Lektüre der kanonischen Schriften, abends Kadersitzung, dann am Wochenende der Straßenkampf. Die verblüffende Erfahrung, wenn wir Provinzler abends in der Kneipe zur Entspannung Freddy Quinns Heimwehlied sangen: „Brennend heißer Wüstensand. So schön, schön war die Zeit“. Da rümpften die Oberrevoluzzer natürlich die Nase, sie lehnten den Schlager ab, kannten ihn aber bestens.
Es ist wie bei einem Virus. Man mag ihn nicht. Er lässt sich aber auch nicht vermeiden. Durch seine massenweise Verbreitung in Funk und Fernsehen ist oder besser war der Schlager die mediale Luft, die wir atmen mussten. Aber diese Zeiten sind vorbei.
Das Erscheinen der Beatles auf dem Musikmarkt mit ihren deutschen Texten machte dem deutschen Schlager, wie ich ihn liebte, den Garaus. Wie ein Meteor mit unschlagbarer Wucht schlug „Sie liebt dich, yeah yeah yeah“ auf den deutschen Schlagerplaneten auf, und nach und nach starben sie aus, die Dinosaurier der Schlagerindustrie. Die Zeit des Pop begann. Die Neue Deutsche Welle mit Nenas „99 Luftballons“ oder Falcos „Dra die net um, der Kommissar geht um“ waren keine Gassenhauer mehr. Die Deutschen lauschten internationalen Hits mehr als alle anderen Nationen, denn mittlerweile sprachen sie auch gut Englisch. Die Schlagerkultsendungen der Fernsehanstalten machten um die Jahrtausendwende dicht. Individualisierung, Globalisierung, Digitalisierung, Politisierung begünstigten eher eine Art Weltmusik.
Roy Black und Rex Gildo
Aber schon vorher kamen die tragischen Helden des deutschen Schlagers in die Schlagzeilen der Boulevardpresse: Ludwig Franz Hirtreiter und Gerhard Höllerich, besser bekannt als Rex Gildo und Roy Black. 1991 starb Roy Black, 1999 Rex Gildo. Beide unter merkwürdigen Umständen. Roy Black wurde tot in seiner Fischerhütte gefunden mit 3,3 Promille Alkohol im Blut, und Rex Gildo sprang aus dem Fenster. Die „Zeit“ schrieb hämisch: „Der deutsche Schlager ist aus dem Klofenster gesprungen“.
Wie bösartige Vorahnungen auf das Ende lesen sich heute die Texte ihrer Ohrwürmer: Roy Black sang zusammen mit der zehnjährigen Norwegerin Anita Hegerland den bis heute immer noch bei YouTube angeklickten Hit: „Schön ist es auf der Welt zu sein, sprach die Biene zu dem Stachelschwein“ und weiter im Text: „das Schönste im Leben ist die Freiheit, denn dann sagen wir Hurra!“ Frei fühlte sich Roy Black aber nie. Er verabscheute die Schlager, mit denen er identifiziert wurde. Er hätte lieber Rock’n’Roll gesungen.
Bei Rex Gildo war es ähnlich. Seine Erfolgsduette mit Gitte Haenning und Conny Froboess: „Geh’n sie aus im Stadtpark die Laternen“ wurde für ihn schon in den 90er Jahren Wirklichkeit. Seine Auftritte beschränkten sich auf Volksfeste und Einkaufszentren. Alkoholexzesse und Depressionen bei beiden waren auch darauf zurückzuführen, dass sie ihre homophilen Neigungen nie öffentlich machen konnten.
Deutschsprachige Schlagerquote im Radio
Gewiss, es gab die „Hölle, Hölle, Hölle“ des Wolfgang Petry, damit füllte er das Olympiastadion. Es gibt Andrea Berg, die mindestens so viel Platten verkauft wie erwähnte Helene Fischer. Aber aus der Lachnummer haben sie den Schlager nicht holen können. Das hat erst ein blonder Engel aus Sibirien geschafft: Helene Fischer. Mit vier Jahren kam sie mit ihrer Familie, die als Wolgadeutsche 1941 nach Sibirien verbannt wurde, nach Deutschland. Eine Karriere ohnegleichen begann. Schon auf der Realschule nahm sie an Theater- und Tanzkursen teil, absolvierte erfolgreich eine Musicalausbildung und als sie 2008 den Volksmusiksänger Florian Silbereisen kennen- und lieben lernte, war sie zum Schlagermarkenartikel gewandelt, der alles andere verdrängte. Superblond, superbeweglich und im Zeitalter der Selfies auf der Höhe der Zeit: „Atemlos durch die Nacht“, das war die geheime deutsche Nationalhymne, die sie zusammen mit den Fußballweltmeistern am Brandenburger Tor sang. Spätestens nach diesem Auftritt war der deutsche Schlager wieder salonfähig.
Am 17. Februar 2015 forderte die junge Union Mecklenburg-Vorpommerns eine deutschsprachige Schlagerquote im Radio: „Durch Helene Fischer hat der Schlager ein frisches Image bekommen. Um diesem Plan mehr Nachdruck zu verleihen, wollen wir sogar demonstrieren.“ Man sollte die neue Bewegung FIGUDDSCH nennen: „Fischer Gegen den Untergang Des Deutschen Schlagers“. Aber auch ohne Quote werden wohl bald alle Rundfunkstationen wieder Schlager spielen. Nana Mouskouri: „Weiße Rosen aus Athen, sagen dir, komm recht bald wieder …“
Volker Panzer, 67, moderierte 15 Jahre lang das ZDF-Nachtstudio und tritt gelegentlich und auf Anfrage mit Schlagern der 1950er und 60er Jahre auf.
Volker Panzer
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