Neue Deutsche Welle: Ihr seid nicht allein
Sie spenden viel Trost und zeigen viel Taille: Helene Fischer und Andrea Berg bringen den Schlager zurück ins TV. Kaum ein Wochenende ohne Primetime-Show.
Grau sah die vormals so bunte Schlagerwelt in den Achtzigerjahren aus: Der angloamerikanische Pop besetzte die Verkaufshitlisten, während die Neue Deutsche Welle die vertraute Schlagerseligkeit mit Liedern wie „Da Da Da“ aufmischte und Haudegen wie Dieter Thomas Heck dazu nötigte, sich von der „ZDF-Hitparade“ zu verabschieden. Seither dümpelte der Schlager vor sich hin – ein Zustand, an dem sich bis vor kurzem trotz angestrengter Bemühungen des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR) und trotz der ironischen Renaissance, die Guildo Horn und Dieter Thomas Kuhn einleiteten, nicht viel änderte.
Nur wenige Schlagersänger der alten Garde wie Howard Carpendale oder Udo Jürgens dürfen für sich in Anspruch nehmen, über Jahrzehnte hinweg Konzertsäle zu füllen. Nur wenigen Künstlern wie Wolfgang Petry oder Claudia Jung gelang es zuletzt, mit Schlagermusik kommerzielle Erfolge zu feiern. Viele Interpreten wie Marion Maerz oder Margot Eskens siedelten in den Volksmusikstadel über, wo sich die Grenzen zum Schlager mehr und mehr verwischten. Mit der von Andi Borg oder Hansi Hinterseer präsentierten immergleichen Berg-und-Tal-Seligkeit lassen sich inzwischen nicht viele Blumentöpfe gewinnen.
Doch wann immer der Grabgesang auf das Genre angestimmt wird, stört der Name Andrea Berg. Allen Anfeindungen zum Trotz hat die 46-Jährige jene Nische gefunden, in der sich auch mit Schlagern mehr als ein Häuschen in Großburgwedel bauen lässt. Zwanzig Jahre währt ihre außergewöhnliche Karriere bereits. Anlass genug für die ARD, sie an diesem Sonnabend zur Prime Time mit einer eigenen Show zu feiern – und Berg ist nicht die einzige Sängerin, mit der das öffentlich-rechtliche Fernsehen den Schlager aus Hansis & Andis Händen befreien will.
Die zweite Hoffnung heißt Helene Fischer. Mehr als fünf Millionen Zuschauer verfolgten die Show der 28-Jährigen am ersten Weihnachtstag in der ARD, am Neujahrstag schmückte sich das ZDF-„Traumschiff“ mit ihr, 8,48 Millionen Zuschauer schalteten ein. Das Erste würde die Sängerin gerne stärker an sich binden. „Wir glauben, dass die ,Helene-Fischer-Show‘ in der ARD eine große Zukunft hat und möchten die Zusammenarbeit mit Helene Fischer gerne fortsetzen“, sagt MDR-Unterhaltungsschef Peter Dreckmann. Die „Andrea-Berg-Show“ sei zunächst als Einzelprojekt geplant, „auch wenn wir eine Fortsetzung nicht ausschließen.“
Hinter der Idee, beide Schlagerköniginnen so prominent zu präsentieren, schlummert eine Sehnsucht der Sender. Sie wollen neben „Wetten, dass..?“ weitere Formate schaffen, die an die Unterhaltungshighlights früherer Tage, an die Shows, die Vico Torriani, Caterina Valente oder Peter Alexander legendär machten, anknüpfen.
Andrea Berg – das lässt sich vorhersagen – taugt nicht dazu. Wer einmal ein Konzert von ihr besucht hat, weiß, dass ihre rhetorischen Talente überschaubar sind. Um die fehlende Originalität scheren sich ihre Fans nicht; sie huldigen einer Sängerin, die weiß, dass die Scheidungsquoten unentwegt steigen und sie mit Liedern wie „Du hast mich tausendmal belogen“ Trost spenden kann.
Leicht erklären lässt sich dieses Phänomen nicht. Denn das Berg-Gesamtpaket setzt sich aus mehreren Elementen zusammen, die belegen, dass es keiner herausragenden Qualifikationen bedarf, um zur Identifikationsfigur der populären Kultur zu werden. Andrea Bergs fragile Stimme hat nichts Herausragendes. Ihr Repertoire an körperlichen Ausdrucksformen besteht aus stereotypen Handbewegungen und Bühnensprints. Ihre Lieder sind musikalisch und textlich Durchschnitt; daran hat auch ihr Produzent Dieter Bohlen nichts ändern können. Im August 2012 beendete beide ihre Zusammenarbeit.
An Außergewöhnlichem bleibt vor allem Bergs Outfit: Hohe Stiefel, kurzer Rock und straffe Corsage sind ihr Markenzeichen. Nana Mouskouri hatte in einem solchen Ensemble nicht einmal ihre Hochzeitsnacht verbracht. Andrea Berg ist eine singuläre Erscheinung – und im Vergleich mit Retorten-Stars gerade wohl deshalb so populär.
Von anderem Kaliber ist Helene Fischer, die wie Andrea Berg in allen Interviews und Auftritten eine grundbiedere, fast aseptische Normalität auszustrahlen versucht. Das Exzentrischste an ihr ist noch der sibirische Geburtsort Krasnojarsk. Was Fischer dennoch zur großen TV-Hoffnung macht, ist ihr Hang zur Perfektion. Ihre Stimme überragt die ihrer Kollegen, und mit Akrobatik- und Tanzeinlagen will sie dem gerecht werden, was einen glanzvollen Samstagabend, der unmöglich nur aus simplen Schlagern bestehen kann, ausmacht. Bei ihren Auftritten und auf den CD-Cover zeigt sie Haut, ohne ins halbseidene Fahrwasser Andrea Bergs zu geraten. Dass sie mit Florian Silbereisen liiert ist, haben ihr die Anhänger längst verziehen.
ARD und ZDF werden Helene Fischer in den nächsten Jahren wohl jeden Wunsch von den Augen ablesen. Vielleicht ja hat sie das Zeug zur deutschen Céline Dion, doch dazu bräuchte es den Mut, Ecken und Kanten zu zeigen und Lieder aufzunehmen, die mehr Substanz haben als der eintönige Mustopf, in den ihr Produzent Jean Frankfurter sie zwängt. Wer ihre Duetts mit Michael Bolton hört, merkt schnell, woran es hapert. Dass man darüber bei einer deutschen Schlagersängerin überhaupt nachdenken mag, spricht jedoch für sich und für sie.
In der Show am heutigen Sonnabend wird Helene Fischer Andrea Berg covern, Andrea Berg singt ein Stück von Helene Fischer. Eine schöne, heile Schlagerwelt, die dem Millionenpublikum gefällt.
„Andrea Berg – Die 20 Jahre Show“, 20 Uhr 15, ARD
Rainer Moritz
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