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Daniil Granin
© dpa

Zum Tod von Daniil Granin: Der Aufrechte

Der russische Schriftsteller Daniil Granin ist tot. Mit ihm geht einer der letzten Zeitzeugen der Belagerung von Leningrad.

Als er vor drei Jahren im Bundestag die Gedenkrede für die Opfer des Nationalsozialismus hielt, wollte er „nicht als Schriftsteller und Historiker, sondern nur als Soldat sprechen“, dem die 900 Tage währende Blockade von Leningrad durch die Deutsche Wehrmacht noch immer vor Augen stand. Der Elektroingenieur Daniil Granin, am 1. Januar 1919 im russischen Wolyn geboren, hatte sich 1941 freiwillig zur Roten Armee gemeldet, musste aber schließlich mehr oder weniger hilflos zusehen, wie rund eine Million Menschen der Einkesselung zum Opfer fielen.

Das Leiden der Eingeschlossenen

„Wie wollte man dem Hunger entgehen?“, fragte Graniin damals. „Unvorstellbares diente als Nahrung. Man kratzte den Leim von den Tapeten und kochte Ledergürtel. Die Chemiker in den Instituten destillierten Firnis. Man aß Katzen und Hunde. Und dann kam der Kannibalismus…“

Er konnte in diesem Moment vielleicht auf der Rolle des Soldaten beharren, weil er das Geschehen als Schriftsteller schon zwei Jahre zuvor in dem Roman „Mein Leutnant“ verarbeitet hatte, dessen deutsche Übersetzung im Aufbau Verlag mit einem Vorwort von Altbundeskanzler Helmut Schmidt erschien. Die beiden hatten sich an der Leningrader Front gegenüber gestanden, kamen aber erst über 70 Jahre später in Berlin dazu, sich über ihre Erlebnisse auszutauschen. Granin konnte überdies den Historiker beiseite schieben, weil er zusammen mit Ales Adamowitsch eine zweiteilige Chronik mit Zeitzeugenberichten herausgegeben hatte, die Mitte der achtziger Jahre unter dem Titel „Das Blockadebuch“ bei Volk und Welt auch auf Deutsch erschienen war.

Das Fazit, das der 95-jährige Granin im Bundestag zog, sprengte dennoch alles Soldatische. Er widmete seine Erinnerungen den gefallenen Kameraden, entdeckte in ihrem Tod aber einen „sakralen Raum, wo der Mensch Mitgefühl, Spiritualität und das Wunder der Liebe wiederfindet und begreift, dass letzten Endes nie die Gewalt, sondern stets die Gerechtigkeit triumphiert.“

Honecker lud ihn ein

Granins erster Roman „Bahnbrecher“ erschien 1954, ein Jahr nach Stalins Tod, und spielte den Eigensinn eines jungen Ingenieurs, der mit einem selbsterfundenen Apparat Fehlern in elektrischen Leitungen auf den Grund gehen will, gegen die Ablehnung der Bürokratie durch. Ein Konfrontationsmuster, das er unter Rückgriff auf seine eigene Berufserfahrungen mehrfach variierte, etwa 1962 in „Zähmung des Himmels“, wo ein Physiker gegen die Engstirnigkeit antritt. Granin erinnerte sich gerne daran, dass ihn Erich Honecker mit „Bahnbrecher“ in die DDR einlud – die erste Begegnung mit den verhassten Deutschen nach dem Krieg, aus der sich Freundschaften mit Anna Seghers, Heinrich Böll, Günter Grass, Ernst Busch oder Christa Wolf entwickelten. Als Humanist und Moralist hielt er auf Abstand zu den Ideologen, brach aber nie mit dem Sowjetsystem. Jetzt ist Daniil Granin im Alter von 98 Jahren in der Stadt seiner schmerzhaftesten Erinnerungen, die heute wieder St. Petersburg heißt, gestorben.

Gregor Dotzauer

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