Günter Grass' letztes Buch "Vonne Endlichkait": Der allerletzte Tintenfluss
Zum Schluss noch einmal schimpfen: "Vonne Endlichkait", das letzte Werk von Günter Grass, wurde in Göttingen vorgestellt - humorvoll und mit einem Gedicht über "Mutti" Angela Merkel.
Das kleine, uralte Haus in Göttingens Düsterer Straße 6 muss an diesem Dienstagnachmittag vermutlich so vielen Besuchern wie nie in seiner weit über 700-jährigen Existenz Platz bieten. Gerhard Steidl hat es vor zehn Jahren erworben und dann lange restauriert, um es als
Günter-Grass-Archiv zu nutzen. Klar, dass die Buchpremiere von „Vonne Endlichkait“ hier stattfindet, des letzten Grass-Buches, das der Literaturnobelpreisträger bis zu seinem Tod am 13. April dieses Jahres fertiggestellt und durchkonzipiert hat. Rund 80 Medienmenschen sind gekommen, um zu hören, was Steidl und Grass-Lektor Dieter Stolz im Beisein der Grass-Witwe Ute über die Arbeit an dem Buch zu sagen haben.
Vor den Manuskriptseiten und den Originalen der an allen Wänden hängenden Grass-Zeichnungen stehend erzählt Steidl, ausnahmsweise nicht im weißen Kittel wie sonst, wenn er Besucher in seinem Verlag nebenan in der Düsteren Straße 4 empfängt, dass er mit Grass beim Arbeiten gewissermaßen Pingpong gespielt habe: auf der einen Seite des Tisches eine Idee, dann sei sie auf der anderen Seite angekommen und verbessert zurückgegangen, und so stetig hin und her.
Steidl zeigt auf die unter einem Glastisch in der Mitte des Raumes aufgereihten einzelnen Seiten des Buches: „Grass sagte: Ist dieses Rot bei den Überschriften nicht zu grell? Ich schlug dunkelgrau vor, er fand das gut, und so wurde es gemacht. Das ist Gestaltung der letzten Hand, alles sehr authentisch.“
Günter Grass - Star der deutschsprachigen Literatur
Immer wieder betont Steidl zwar, wie Grass die Vorgaben gemacht hat, was er alles von ihm gelernt hat. Doch man spürt bei seinen Erzählungen, dass er während der Zusammenarbeit sich seiner selbst als mehr als ebenbürtiger Partner des Literaturnobelpreisträgers stets sehr bewusst war. Und Steidl ist schließlich ganz in seinem Element, als er hier mal den Namen Andreas Gursky fallen lässt, mit dem er ähnlich intensiv wie mit Grass an dessen Fotobüchern arbeite. Oder er dort eine Karl-Lagerfeld-Anekdote zum besten gibt: „Die nächste Kollektion ist immer die beste, hat Karl Lagerfeld einmal zu mir gesagt. So ist das beim Büchermachen auch. Die Erfahrungen und neuen Erfindungen beim Gestalten jedes Buches kommen immer den nachfolgenden Büchern zugute."
Nein, er sei kein Sammler, Besitz bedeute ihm nichts, so Gerhard Steidl. Aber wie er da so steht mit seiner schwarz umrandeten Brille, in T-Shirt, darüber ein dunkel kariertes Hemd, und schlichter dunkler Jeans, klein von Statur, wirkt er unscheinbar, aber sehr besessen von seiner Arbeit als Drucker, Gestalter, Verleger. „Zauberwerkstatt“ nennt er einmal seine Räume in der Düsteren Straße.
"Vonne Endlichkait": Großes Format, Baumwollpapier, Zeichnungen
Was bei der Veröffentlichung von „Vonne Endlichkait“ tatsächlich den Charakter eines Ereignisses hat, so wie bei vielen Grass-Veröffentlichungen der vergangenen Jahre, der Jubiläumsausgabe von „Hundejahre“ oder dem Gedichtband „Eintagsfliegen“, ist die Ausstattung des Buches: das große Format, der „sammetweiche“ Einband aus Baumwollpapier (wer nur auf iPads tatschelt, kalauert Steidl, werde sich wundern!), das Zusammenspiel von Text, Grafik und Buchgestaltung. Mit den Gedichten und der Prosa allein ist es so eine Sache. Hat man jetzt wirklich auf die letzten Worte von Grass gewartet, auf letzte Tintenflüsse, um in einem Grass-Bild zu bleiben, hat man etwas Außerordentliches, Herausragendes noch erhofft?
Vieles meint man zu kennen, aus Grass’ autobiografischen Büchern, aus den „Eintagsfliegen“, an das „Vonne Endlichkait“ nicht nur inhaltlich, sondern auch stilistisch anknüpft. Prosagedichte, wenn man so will, die die Grenzen zwischen beiden Gattungen verwischen. „Wo fängt Prosa an, wo hört Lyrik auf?“, fragte Grass in einem Gedicht der „Eintagsfliegen“, und so dominiert hier meist der Inhalt, der Stoff über Reim, Rhythmus oder Versmaß.
Steidl sagt, dass Grass bei aller Schwermut über den körperlichen Verfall, bei aller Alterswehmut ein „mitunter zum Brüllen komisches Buch“ geschrieben habe. Was den Humor betrifft, sei er zu „Höchstform“ aufgelaufen. „Grass war kein verbiesterter Mensch, wie viele meinen“. Vermutlich kannten sich Steidl und Grass aber einfach zu gut: Grass’ Humor ist in „Vonne Endlichkait“ ein sehr, sehr subtiler – es überwiegt ein elegischer Ton, in dem zumindest gelegentlich Ironie und Selbstironie mitschwingen. Das Alter stellt seine Fragen „Wie lange noch?“, „Warum überhaupt?“, die Saft-, Kraft-, Schlaf-, Geruchs- und Geschmackslosigkeit wollen dargestellt sein, der Frust darüber, dass „ihm weder gestrichelte Bilder noch gereihte Wörter von der Hand gingen“. Gerade der letzte echte Zahn muss den alten Schriftsteller inspiriert haben. Mehrmals kommt er auf ihn zurück, damit im direkten Zusammenhang stehend natürlich auch die dritten Zähne. Witzig ist das Selbstporträt, das Grass von sich gezeichnet hat und ihn mit eben nur jenem letzten Zahn zeigt. Daneben steht aber wieder: „Will – seit langem kurz von Atem–/nun mit allerletztem Zahn/nie mehr sagen Ja und Ja/nur noch Nein, Neinnein und Nein.“
Ein Gedicht ist eine Abrechnung mit Bundeskanzlerin Merkel
Insgesamt bietet der Band noch einmal den ganzen Grass, vor allem den der späten Jahre – wobei er selbst den Diebstahl der für ihn und seine Frau angefertigten Särge nicht auslässt (die eines Tages wieder vor der Tür standen). Rund um die Alterslamentiererei finden sich gezielt politische Gedichte, typisch platte über das Finanzgebaren Europas oder über Griechenland, ein durchaus gelungenes, treffendes über Bundeskanzlerin
Angela Merkel, „Mutti“ betitelt, mit Zeilen wie „Was stören könnte, wird beredt beschwiegen;/ sie jedenfalls sagt wortreich nichts.“ Oder ein feines, Zeiten und Räume klug umspannendes, auf die Flüchtlingspolitik dieser Tage anspielendes wie „Fremdenfeindlich“. Dazu kommt manche Prise Kulturpessimismus, da schimpft Grass auf das Internet, die mediale Gleichzeitigkeit, die 24-Stunden-Erreichbarkeit: „Täuscht Freiheit vor. Entmündigt erleben wir uns zappelnd im Netz.“
Die gelungensten, schönsten Miniaturen aber sind jene, in denen Grass sich erinnert, an seine Düsseldorfer Zeit in den fünfziger Jahren oder seinen ersten Gedichtband „Die Vorzüge der Windhühner“. In denen er sich in Naturbetrachtungen übt oder den Hut vor Kollegen zieht, vor Wolfdietrich Schnurre, von dem er einst eine Geschichte geschenkt bekam, oder vor Jean Paul: „In wülstig fettem Leib/friert eine empfindsame Seele/ und dürstet nach etwas,/ das dem Bier, Schluck nach Schluck,/rasch schwindend Ersatz ist.“
Am Ende, Grass habe sich, so Steidl, viel Gedanken über Anordnung und Dramaturgie gemacht, kommen Bilder vom „Schlussstrich“. Da wird, daher der Titel, die „Endlichkait“ auf ostpreußische Mundart thematisiert, „nu hat sech jenuch jehabt“ und auch Bilanz gezogen, mit Blick auf die vielen eigenen Bücher im Regal. „Das ist die Summe. Fehlt noch was, das unterm Schlußstrich zählen könnte?“, fragt Grass rhetorisch und hat die Antwort mit diesem Buch gegeben.
"Vonne Endlichkait" erscheint am Freitag, Steidl Verlag, Göttingen 2015. 176 Seiten, 28 €.