Die Berlinale 2020 startet: Der 70. Geburtstag ist eine gute Chance zum Neubeginn
Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek haben einen holprigen Start gemeistert. Sie können dem Festival nun gelassen entgegenblicken. Ein Kommentar.
Berlin ist für seine Willkommenskultur berühmt. Auch in der Kulturszene haben in den vergangenen Jahren namhafte Neuankömmlinge den rauen Wind zu spüren bekommen. Dabei ging es nicht immer – wie im Fall von Chris Dercons Engagement an der Volksbühne – um die fachliche Eignung, sondern auch um weiche Faktoren wie Mentalität. Der Berliner steht Veränderungen gerne erst mal skeptisch gegenüber.
An diesem Donnerstag beginnt die 70. Berlinale. Das Jubiläum ist zugleich ein Neustart. Zum ersten Mal wird das Filmfestival von einer Doppelspitze geleitet, und man kann jetzt schon sagen, der künstlerische Leiter Carlo Chatrian und Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek haben sich gut eingelebt.
Zwar verlief der Start holprig, durch auslaufende Sponsorenverträge drohte ein finanzielles Loch, es fehlten Spielstätten nach der Schließung des Cinestar am Potsdamer Platz – und dann kam auch noch heraus, dass der Gründungsdirektor Alfred Bauer ein hoher NS-Kulturfunktionär war. Dessen Verstrickungen in Goebbels’ Filmbürokratie soll nun das Münchner Institut für Zeitgeschichte aufarbeiten, die erste politische Amtshandlung von Chatrian und Rissenbeek.
Die Geduld und der Optimismus, mit denen sie Krise um Krise parierten, zeugen von großer Gelassenheit.
Chatrian und Rissenbeek setzen neue Akzente
Die Berlinale ist der kulturelle Leuchtturm der Stadt. Für zwei Wochen im Februar öffnet sich Berlin der Welt. Die Berliner lieben ihr Filmfestival, auch deshalb wurde der Wechsel an der Spitze nach 18 Jahren Dieter Kosslick kritisch beäugt. Unter Kosslick hat die Berlinale ihre Identität als Publikumsfestival endgültig gefunden, dank ihm wurde das Festival charmanter und weniger elitär, gleichzeitig auch politischer. Manchmal sogar auf Kosten der Kunst.
Vier Regisseurinnen gewannen in seiner Ära den Goldenen Bären, mehr als auf jedem anderen großen Filmfestival. Und trotzdem war die Zeit für Veränderungen überfällig. Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek haben in den vergangenen zehn Monaten ein glückliches Händchen darin bewiesen, Kontinuität zu bewahren und gleichzeitig neue Akzente zu setzen.
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Es gibt weiterhin ein gutes Dutzend Programmreihen und jetzt auch einen zweiten Wettbewerb für avanciertes Kunstkino. Und auch unter italienisch-niederländischer Leitung wird der deutsche Film nicht zum Schattendasein verdammt. Die Serien rücken noch stärker in den Mittelpunkt, Streaming ist längst eine selbstverständliche Ergänzung zum Kino.
Die Berlinale ist zeitgemäßer als die Konkurrenz
Carlo Chatrian will sich weiterhin um Stars bemühen, er weiß, dass ein Filmfestival auch von deren Strahlkraft lebt. Die Vorverlegung der Oscars macht diese Aufgabe nicht gerade leichter – dafür können die beiden nichts. Und vielleicht fühlt sich Carlo Chatrian sogar bestätigt, wenn er zuletzt wiederholte, dass die Zukunft des Kinos nicht mehr in Hollywood liegt. In diesem Jahr ist mit „Parasite“ ein südkoreanischer Film der große Abräumer bei den Oscars. Die globale Filmindustrie verändert sich, auch Festivals müssen ihre neue Rolle finden.
Dass sich die Berlinale nach den Bauer-Enthüllungen ausgerechnet zum 70. Geburtstag mit der eigenen Geschichte auseinandersetzen muss, kann sich sogar als Glücksfall erweisen. Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass die Berlinale, die als demokratisches Friedensprojekt eingekeilt zwischen den politischen Systemen gegründet wurde, eine braune Vorgeschichte hat, belegt die Gegenwart doch, wie weit es das Festival gebracht hat.
Mit der Doppelspitze und einem stärkeren Fokus auf inhaltliche Diversität ist die Berlinale zeitgemäßer als die Festivals in Cannes und Venedig aufgestellt. Entscheidend für die Zukunft des Festivals – auch für die Berliner Kinolandschaft – werden aber die Ideen sein, mit denen Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek in einer Zeit, in der der Film seinen angestammten Ort, das Kino, zu verlieren droht, auf den Wandel in der Branche reagieren. Den Vertrauensvorschuss haben sie.