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Das Futurium entsteht am Kapelle-Ufer im Berliner Regierungsviertel. Besucher sollen dort nicht nur Schauen, sondern Mitreden und -machen.
© Rendering: Richter Musikowski

Zukunftsforschung: Dem Morgen den Boden bereiten

Zum verantwortungsvollen Umgang mit Zukunftsentwürfen gehören Fantasie, Mut und der kritische Blick zurück, sagt der Historiker Lucian Hölscher. Mögliche Welten von morgen können Besucher ab 2017 im Futurium erleben, das gerade in Berlin Richtfest feierte.

Jeder kennt sie, Zukunftsvorstellungen greifen überall und jederzeit in unser Leben ein: der nächste Urlaub, die Gewinnerwartung des Unternehmens, die weltweite Bevölkerungsvermehrung, die Klimaerwärmung... Dass die Zukunft anders wird als die Gegenwart und die Vergangenheit, gehört zu den Grundfesten unserer modernen Weltorientierung. Nichts liegt daher näher, als sich mit der Zukunft zu beschäftigen: wissenschaftlich wie privat. Doch hier endet auch schon die Gewissheit. Denn jeder weiß, dass unsere Vorstellungen von der Zukunft unsicher sind – zumal, wenn wir nur begrenzt über ihre Verwirklichung verfügen: Vieles, was wir uns vornehmen, lässt sich so nicht umsetzen. Und was wir für zwingende Voraussagen halten, wird durchkreuzt von Faktoren, die wir nicht vorausgesehen haben.

Doch auch aus dem Scheitern vergangener Zukunftsentwürfe kann man lernen. Oft gilt: Je weiter der Zukunftshorizont, den eine Gesellschaft zieht, desto höher die Gewaltbereitschaft zu ihrer Umsetzung. Beispiele dafür bietet das vergangene Jahrhundert zuhauf: Die Gewaltutopien der deutschen Nationalsozialisten vom „Tausendjährigen Reich“, die Zerstörung der europäischen Städte im 20. Jahrhundert, die einer Zukunftsstadt weichen sollten, oder die medizinischen und biologischen Experimente an Menschen, um eine neue Menschheit zu „bauen“, gehören dazu.

Doch dies bedeutet nicht, dass sich das gesellschaftliche Zusammenleben nicht dank neuer Zukunftsvisionen im Laufe der Zeit auch verbessert hätte: Der Motor, die Demokratie, das Penizillin gehören zu den Erfindungen, die sie ermöglicht haben. Angesichts der vielen Altlasten scheint die Zukunft zwar gelegentlich eine knappe Ressource geworden zu sein. Doch umso mehr gilt es, neue Freiräume zu schaffen. Denn die Menschheit braucht Raum für neue Projekte, um zu überleben.

Es gibt vielerlei Formen, die Zukunft zu entwerfen: Planungen, die wir selbst vorantreiben, unterscheiden sich von Prognosen und Prophezeiungen, die ohne unser Zutun eintreten. Und allein schon unter den Prognosen lassen sich viele Typen unterscheiden: Hochrechnungen von Analogieprognosen, dialektische Umschlagprognosen von Wunsch- und Angstprognosen und so weiter. Was wir über die Zukunft zu wissen glauben, hängt von den Verfahren ab, mit denen wir sie entwerfen.

Zukunftsforschung ist mehr als das Werk von Scharlatanen

Die Zukunft ist ein Chamäleon, das immer wieder seine Farbe wechselt, ein Nebelgebilde, dessen Gestalt wir nicht zu fassen bekommen. Gleichwohl ist ihre Erforschung mehr als das Werk von Scharlatanen: Große Teile der Sozialwissenschaften haben sich darauf spezialisiert, sie zu erkunden und zu gestalten. Ihre Erkenntnisse dienen der Politikberatung, speisen Entwicklungsprogramme, dienen der Gesellschaft zur Orientierung. Insgesamt haben sie zu einer früher unbekannten Selbstreflexivität menschlichen Handelns geführt. Am Anfang steht zwar immer der Vorbehalt, dass alles auch anders kommen kann. Doch am Ende führt sie doch zu Handlungsoptionen, die unser Vertrauen verdienen.

Zum verantwortlichen Umgang mit Zukunftsentwürfen ist Fantasie und Mut, aber auch historische Selbstaufklärung nötig. Aus globalhistorischer Sicht betrachtet, handelt es sich bei der Zukunft um eine relativ junge Denkform: Erst seit 300 Jahren entwerfen die europäischen Gesellschaften langfristige Zukunftshorizonte und definieren Ziele, auf die hin sich die Menschheit entwickelt. Bis dahin schien das bevorstehende Ende der Welt immer nah und vorgezeichnet durch die großen Erzählungen vom kommenden Gottesgericht und der dann anbrechenden Gottesherrschaft.

Doch auch in den Jahrhunderten seither gab es periodische Schwankungen: Zeiten intensiver Zukunftseuphorie lösten sich ab mit Zeiten starker Zukunftsskepsis und -angst: Die letzte große Euphorie-Phase hatte ihren Höhepunkt in den 1960er Jahren, bevor in den 1970ern eine neue Welle der Zukunftsangst einsetzte: Die Sorgen um das Waldsterben und eine fortschreitende Vergiftung der Lebensmittel, um die Erschöpfung der Ressourcen und die atomare Verseuchung der Erde, um den Zusammenbruch des Weltwirtschaftssystems in der Finanzkrise und die immer noch drohende Klimakatastrophe verstellten den optimistischen Blick in die Zukunft.

Zählt man die großen periodischen Wellen der neuzeitlichen Zukunftsneugier, so stehen wir heute – nach den Hochphasen um 1770, 1830, 1890 und 1950 – an der Schwelle eines neuen, des fünften Aufbruchs in die Zukunft. Im Laufe der Zeit haben sich vor allem die begrifflichen Instrumente der Zukunftsforschung verfeinert: Die Zukunft „kommt“ nicht mehr einfach auf uns „zu“ wie in der Vormoderne, sondern wir gehen gestaltend in sie hinein. Wir wissen zwar nicht, was sie bringt, aber wir können wahrscheinliche Szenarien entwerfen, die das Feld der Möglichkeiten eingrenzen.

Beim Richtfest des Futuriums wurde der neue Name von Bundesbildungsministerin Johanna Wanka, Geschäftsführerin Nicole Schneider und der Aufsichtsratsvorsitzenden Cornelia Quennet-Thielen entrollt.
Beim Richtfest des Futuriums wurde der neue Name von Bundesbildungsministerin Johanna Wanka, Geschäftsführerin Nicole Schneider und der Aufsichtsratsvorsitzenden Cornelia Quennet-Thielen entrollt.
© Jessica Wahl

Utopien: nicht mehr das Unmögliche, sondern das Noch-nicht-Mögliche

Angesichts des stetig steigenden Ressourceneinsatzes ist es immer wichtiger geworden, sich über das zu verständigen, was vielleicht eines Tages einmal möglich sein wird. Vor allem in der Wirtschafts- und Technikplanung haben wir gelernt zu unterscheiden: das, was wir heute schon als möglich voraussehen, und das, was noch hinter dem Horizont der heutigen Möglichkeiten liegt, aber wahrscheinlich in absehbarer Zeit möglich sein wird. Wir sprechen hier zwar häufig von „Utopien“, aber nicht mehr im Sinne des gänzlich Unmöglichen, sondern des Noch-nicht-Möglichen.

Schließlich haben wir seit etwa 50 Jahren begonnen, systematisch und begrifflich zwischen unserer gegenwärtigen Zukunft einerseits (das heißt dem, was wir in unserer heutigen Gegenwart für zukünftig halten) und der zukünftigen Gegenwart andererseits (dem, was man später einmal für gegenwärtig halten wird) zu unterscheiden. Das ist in vielerlei Hinsicht wichtig. Denn nun stellt sich etwa die Frage des Weltkulturerbes neu: Können wir heute schon verantwortlich voraussagen, was spätere Generationen einmal als ihr „Erbe“ annehmen werden, oder entziehen wir uns mit solchen Bedenken unserer heutigen Verantwortung für die Zukunft? Gibt es „objektive“ Grenzen urbaner Verdichtung, wie sie heute in zahlreichen Mega-Cities zu erleben sind, oder sind die Normen des Humanen auch hier wieder historisch und kulturspezifisch relativ – so wie sich um 1840 zeitgenössische Beobachter des damals noch neuen Eisenbahnbaus nicht vorstellen konnten, dass der menschliche Körper Geschwindigkeiten von mehr als 45 Stundenkilometer ertragen könne?

Für Historiker ist die vergangene Zukunft in den letzten Jahrzehnten zu einem eigenen Forschungsfeld geworden: „Die Zukunft“ ist für sie nicht mehr wie im 19. Jahrhundert einfach nur der Zeitraum des Kommenden, sondern (übrigens ebenso wie die Vergangenheit) eine zeitgebundene Projektionsfläche der Gesellschaft. Sprachlich drückt sich dies darin aus, dass heute immer häufiger statt von der einen Zukunft, von vielen „Zukünften“ die Rede ist. Doch dies reduziert die Zukunft nicht auf eine subjektive Vision oder Illusion, sondern stellt sie in einen gesellschaftlichen Zusammenhang zwischen verschiedenen Zeiten und Räumen.

Das heißt: Was frühere Generationen einmal für zukünftig möglich oder gar wahrscheinlich hielten – der Sozialismus als kommende Gesellschaftsutopie, die Rassenutopien der Zwischenkriegszeit – wird nicht mehr einfach nur als „vergangen“ und „Illusion“ abgetan, sondern gehört in neuer Weise zum Raum des auch heute latent noch Möglichen. Das Bild der Geschichte erweitert sich um die Dimensionen ihrer verpassten Möglichkeiten und vermiedenen Gefahren.

Die Gegenwart ist das Feld, das wir bearbeiten und gestalten müssen

Doch umgekehrt stellt sich auch der Politik heute verstärkt die Frage nach unserer zukünftigen Vergangenheit: Wie werden sich die Flüchtlingswelle unserer Zeit und die politischen Antworten auf sie später einmal darstellen? Wie werden wir eines Tages auf die neuen Möglichkeiten der Genmanipulation zurückschauen? Politische Entscheidungen müssen sich heute nicht mehr nur vor der zeitgenössischen Öffentlichkeit verantworten, sondern auch vor der Zukunft. Das ist schwierig – auch wenn sich Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder schon immer vor dieses Dilemma gestellt sahen.

Im Lichte der Zukunftsforschung verändert sich auch nicht nur die Bedeutung der Zukunft, sondern auch die der Gegenwart: Sie ist nicht mehr der selbstverständliche Boden, auf dem wir stehen, sondern das Feld, das wir bearbeiten und gestalten können und müssen. Zwischen dem Heute und dem Morgen entfaltet sich ein intensiver ethischer Diskurs. Denn wir wissen nicht nur, dass das Morgen vom Heute abhängt, sondern auch, dass wir unsere heutigen Entscheidungen morgen verantworten müssen. Unser Nichtwissen der Zukunft schützt uns nicht davor, diese Verantwortung tragen zu müssen – und dies gilt es schon heute zu bedenken.

Es reicht daher nicht mehr, dass sich jede Gegenwart immer wieder neu in die Vergangenheit und Zukunft entwirft. Die Beschäftigung mit der Zukunft hat uns vielmehr sensibel gemacht für die Brüche in der Zeit, die wir durchlaufen. Erwartungseinbrüche, wie sie die Deutschen etwa 1918, 1945 und 1989 verkraften mussten, gehören zu den schwersten Belastungen, die einer Gesellschaft widerfahren können. Oft dauert es Jahrzehnte, bis die Menschen wieder Vertrauen in die Zukunft gefasst haben. Das gilt es auch bei künftigen Geschichtsbrüchen zu bedenken.

Zukunftsforschung bedeutet daher mehr als Projektemacherei: Das Bauen neuer Zukunftsmodelle und Projekte ist eine zentrale Ressource sich entwickelnder Gesellschaften. Doch ist es eingebunden in das Abwägen der Gefahren, die mit ihrer Verwirklichung verbunden sind. Dies gilt für den sozialen und ethischen Zusammenhang von Gesellschaften ebenso wie für neue Medikamente oder Reaktorbauten. In der Spannung zwischen utopischem Entwerfen und verantwortungsvollem Abwägen wird sich ein „Haus der Zukunft“ wie das Futurium sein Arbeitsfeld suchen.

Der Autor ist emeritierter Professor für Neuere Geschichte und Theorie der Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Im Mai erschien die Neuauflage seines Buches „Die Entdeckung der Zukunft“ im Wallstein Verlag. Sein Artikel ist zunächst in der Sonderbeilage "Futurium - Richtfest für die Zukunft" erschienen.

Lucian Hölscher

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