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Außergewöhnliches Paar. Ania (Lilith Stangenberg) und ihr Wolf.
© NFP

Stiller Thriller: der Film "Wild" von Nicolette Krebitz: Das Wolfsmädchen

Der Film "Wild" erzählt die Liebe zwischen einer Frau und einem Wolf - und erforscht unerschrocken die Grenzen zwischen menschlicher und tierischer Natur. Sensationell.

Mitten im Grundrauschen von „Jeans“, Nicolette Krebitz’ Regiedebüt von 2002, fällt nach einer halben Stunde ein Satz, der damals haften blieb aus dieser unbekümmert dahingetupften Berliner Großstadt-Etüde. Da denkt Jana Pallaske, die eine Schauspielerin spielt von Anfang zwanzig mit Tresennebenjob, kurz mal ausdrücklich über ihre Berufung nach: „Ich glaub, dass ich alle Seiten von allen Menschen in mir hab. Im Grunde hat das wahrscheinlich jeder Mensch. Aber ich will alle Seiten wirklich einmal sein, bevor ich sterbe.“

Nun ist Nicolette Krebitz,44, bei ihrem dritten Film als Regisseurin angekommen – als Schauspielerin arbeitete sie schon vorher und tut dies bis heute –, und ihre Darstellerin Lilith Stangenberg treibt in „Wild“ das von Pallaske beiläufig herausgemeißelte Selbsterforschungs-Credo radikal auf die Spitze. Im Presseheft-Gespräch zum Film stellt sie zwar noch einen Abstand zwischen sich und jener Ania her, die sie verkörpert; genauso gut aber passt der Gedanke, angesichts der Anforderungen des Drehs, auf sie selbst: „Diese Person hat die Sehnsucht, auszubrechen, sich wie eine Bombe ins eigene Leben zu werfen, sich freiwillig in einen lebensbedrohlichen Zustand zu begeben, Auge in Auge mit einem Raubtier.“

Der Wolf ist echt!

„Wild“ erzählt die Liebesgeschichte zwischen einer Frau und einem Wolf, und das ist auch insofern wörtlich zu nehmen, als hier keineswegs ein Disney-computeranimiertes Dschungeltier zum Einsatz kommt. Der echte Wolf gehört zwar zu einem in Gefangenschaft geborenen und von einem ungarischen Tiertrainer gehaltenen Rudel, bleibt aber, wie jedes Zoo-Raubtier, wild. Dreh- und schnitttechnisch nutzt der Film durchaus übliche Schuss-Gegenschuss-Tricks, um beim Zuschauer die bloße Illusion der Nähe zu erzeugen, oft genug aber sind Lilith Stangenberg und der Wolf gemeinsam im Bild. „Wild“ ist ein stiller Thriller, der mit tatsächlicher Lebensgefahr spielt und darüber hinaus – mit seinem aufregend sonderbaren Paar – die beruhigenden Abgrenzungskategorien zwischen Spiel und Leben auflöst.

Ania arbeitet anfangs, und die Geschichte entwickelt sich äußerst elliptisch, für eine Agentur, die unter anderem für Unternehmen gefakte User-Contents entwickelt, um die Kauflust im Netz anzustacheln: ein nicht nur technisch, sondern auch moralisch hochmoderner Arbeitsplatz. Andererseits muss sie, verdammt archaisch, wie ein Hündchen ihrem Chef Tobias (Georg Friedrich) allmorgendlich den Kaffeepott apportieren, sobald er ein zerdrücktes Bällchen gegen ihre Glaskabine wirft. Keine ihrer Bewegungen entgeht den Mitarbeitern, die sich im Schatten dieses unsubtilen Demütigungsszenarios selber schadlos zu halten suchen. Ania bleibt Außenseiterin in der dienstlichen Plapperwelt; immerhin lobt sie der Chef einmal: „Das mag ich an Ihnen: Sie stellen keine doofen Fragen.“

Auch privat bleibt Ania allein. Es gibt eine jüngere Schwester (Saskia Rosendahl), man skypt ab und zu – noch so eine Art, nah und zugleich sehr fern zu sein. Es gibt den Großvater (Hermann Beyer), aber der treibt im Krankenhaus leise in die Todeswelt hinüber. Und dann steht da, am Wäldchenrand nahe der Hochhaussiedlung in Halle-Neustadt, plötzlich der Wolf, sprichwörtlich angewurzelt auf Grasgrün, sprichwörtlich eingefroren im Kinobild wie Ania auf dem alltäglichen Nachhauseweg: Man verschlingt sich mit den Augen, es ist Liebe, auf den sichtbar ersten Blick.

Ania löst sich radikal aus der Menschenwelt

Ihre Verführung: eine Jagd. Die Herbeilockung des Raubtiers in Anias menschlichen Wohnkäfig gerät dramaturgisch etwas umständlich, augenblicksweise sogar ungelenk. Die Entschlossenheit aber, mit der Ania ihr Ziel anpeilt und erreicht, ihr verwildernder Blick, ihre Verwolfung in Etappen sind es, die dann jeden Zweifel am Geschehen verwischen. Hier findet eine starke, einsame Wölfin unerschrocken ihr Pendant, hier löst sich jemand radikal aus der Menschenwelt. Und der rote Ariadnefaden, mit dem Ania den Weg weist zur Vereinigung der tierischen und menschlichen Natur: nicht mehr als ein paar Blutstropfen auf dem Fußboden im Wohnungsflur.

Nichts Obszönes hat diese Nähe, ganz anders als etwa in Ulrich Seidls legendärer Dokumentation „Tierische Liebe“, deren Regisseur die Übersprungssehnsucht vereinsamter Menschen mit einem Stich ins Denunziatorische ausstellte. Die unterdrückte sexuelle Anziehung zwischen Ania und ihrem durchaus wolfsäugigen Chef, der in seiner Coolness eine verblüffend zarte Seele einpanzert, macht sich vergleichsweise unglücklich Luft: ein Büroschreibtischgerammel bei zufälligem Zusammentreffen morgens vor Dienstbeginn, die Putzkolonne macht sich hastig aus dem Staub. Aber da ist Ania längst fertig mit der Glasraumwelt – und das dokumentiert die glücklich Vertierte dann so drastisch, dass die Sache sich fast noch als die stereotyp rachsüchtige Kündigung einer kleinen Angestellten lesen ließe.

Aber das sind Peanuts. Dieser Film verwirrt, irritiert, überwältigt – und überzeugt – wie kein anderer aus Deutschland seit Langem. Und vor allem: Er verführt. In Umkehrung des „Wolfsjungen“-Motivs bei François Truffaut, wo es um die Zurichtung eines Findelkindes ging, wildert hier eine junge Frau rückhaltlos zum Wolfsmädchen aus. Wie Lilith Stangenberg das ohne jedwede Übertreibung in den Etappen zu dem „Tier, das ich also bin“ (Jacques Derrida) zeigt, ist schlicht atemberaubend. Liebe verändert, egal, wie sie ausgeht, und wenn sie den Namen verdient, für immer.

In Berlin in den Kinos FaF (auch OV), fsk, Hackesche Höfe (engl. Untertitel), Kant, Kulturbrauerei, Passage und Yorck

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