Interview mit Filmregisseur Peter Greenaway: „Das wahre Kino ist noch nicht erfunden“
Ob über Godard, Francis Bacon, Max Planck oder Sex: Peter Greenaway, die britische Filmemacherlegende, spricht am liebsten über alles. Auch über visuelle Analphabeten und den Gesang der Silbermöwen.
Das Interview findet in der obersten Etage eines Hotels statt: Panoramablick über West-Berlin, die Suite trägt die Nummer 1111, was dem Zahlenfreund Peter Greenaway gut gefällt. Noch während der Fotograf ihn wegen des Tageslichts ans Fenster bittet, beginnt Greenaway mit seinen temperamentvollen Ausführungen, deren Assoziationsketten denen seiner virtuos montierten Filme ähneln. So kommt er über das elaborierte englische Vokabular der holländischen Taxifahrer und die fünf Sprachen, die seine jüngste Tochter lernt, auf seine Wahlheimat Holland zu sprechen.
PETER GREENAWAY: Holland hat nichts, fast keine Bodenschätze, das einzige Baumaterial ist Lehm. Eigentlich ist es nur ein Strand, sogar die Bäume wachsen schlecht, weil der Boden so salzig ist. Der Erfolg des Landes liegt in seinem Gemeinschaftssinn: Alle mussten gemeinsam das Meer bekämpfen. Unsere Haustür in Amsterdam liegt dreieinhalb Meter unter dem Meeresspiegel, die Holländer sind Experten im Umgang mit Wasser. Wenn irgendwo ein russisches Atom-U-Boot sinkt oder eine Flutkatastrophe New Orleans heimsucht, wer ist als Erstes da? Die Holländer.
Sie leben gerne dort?
Homosexualität, Abtreibung, Sterbehilfe: Diese Begriffe lösen überall in der Welt die größten Ängste aus. Die Holländer reden offen darüber. Wenn ich diese Wörter auch nur in Toronto ausspreche, heißt es sofort: Halt den Mund! Und wenn ich sie in Bagdad sage, ist es lebensgefährlich.
Reden wir über Ihren neuen Film „Eisenstein in Guanajuato“. Ihre Faszination für den russischen Filmemacher begann 1959, als sie „Streik“ sahen. Seitdem haben Sie alles über ihn gelesen, all seine Materialien gesichtet, waren an all den Orten, an denen Eisenstein sich aufhielt ...
... glauben Sie bloß nicht, dass es sich um eine Wallfahrt handelt. Als Filmemacher habe ich das Privileg, zu Festivals reisen zu dürfen, und da die Leute um meine Begeisterung wissen, laden sie mich ein.
Wie wichtig ist Obsession für die Kunst?
Kunst herzustellen und zu vertreiben, ist anstrengend – da kann es nicht schaden, leidenschaftlich zu sein. Ich habe Malerei studiert, warum bin ich trotzdem Filmemacher geworden? Weil ich enttäuscht war, dass Bilder keinen Soundtrack haben. Dass ich mit 13 oder 14 unbedingt Maler werden wollte, hat mit meinem Vater zu tun, dessen ganze Leidenschaft der Ornithologie galt. Also verbrachte ich als Kind viel Zeit damit, mit meinem Bruder in viel zu großen Gummistiefeln in der Landschaft zu stehen und mit dem Fernglas Vögel zu beobachten.
Perfekte Kombination von Bild und Ton.
Ich kann bis heute den Gesang eines Pirols von dem einer Silbermöwe unterscheiden und dachte lange, alle Achtjährigen könnten das. Aber die meisten Leute können nicht mal Spatzen und Tauben auseinanderhalten. Was sind Ihre Eltern?
Mein Vater ist Architekt, vermutlich nehme ich deshalb Räume besonders aufmerksam wahr.
Was er wohl zu diesem Hotelzimmer sagen würde? Internationaler Berliner Stil, schwarz-weiß, das Bild an der Wand erinnert mich an einen meiner Lieblingsmaler, den Amerikaner R. B. Kitaj. Auf dem Gemälde hier gibt es Realismus, Allegorisches, Symbolisches, ein bisschen Schwitters, ein bisschen Warhol, Toulouse-Lautrec – was für ein Reichtum selbst auf diesem schlechten Bild! Meine beiden Töchter schleppte ich damals in London immer ins Museum, sie hassten es. Die eine ist Bildhauerin geworden, die andere Goldschmiedin, irgendwas hat offenbar abgefärbt.
Was können Bilder, was Sprache nicht vermag? Sie schimpfen seit Jahrzehnten auf das textdominierte Kino.
Ich habe nichts gegen Literatur, sie sollte nur nicht Teil des Kinoerlebnisses sein. Wie sagte Godard? Es ist fast unmöglich, zu einem Produzenten zu gehen und zu sagen, ich habe hier vier Gemälde, drei Drucke und ein Skizzenbuch, geben Sie mir Geld, um einen Film daraus zu machen. Die meisten Menschen sind visuelle Analphabeten. Sie schauen sich im Museum ein Bild an, es verwirrt und beeindruckt sie, aber sie wissen nicht recht, warum. Also beugen sie sich vor und lesen „Frau mit rotem Hut“, und schon denken sie, sie wissen Bescheid. Schuld ist unsere Erziehung, weltweit basiert sie auf Texten. Bilder ohne Text, das löst Unbehagen aus.
Dabei leben wir im visuellen Zeitalter.
Vitruv sagte einmal, und da sind wir wieder bei Ihrem Vater, die beste Bildung wäre die eines Architekten. Ein Architekt muss über alles etwas wissen, über die Vergangenheit, die Nachwelt, die öffentliche Meinung, Baumaterialien, Kosten, Macht ... Heutzutage müssten die Filmemacher derart universell gebildet sein. Aber selbst die Regisseure sind visuelle Analphabeten. Nennen Sie mir einen, der alphabetisiert ist.
Wie wäre es mit ...
... das dauert schon zu lang. Fellini vielleicht ...
... oder Bergman.
Falsch, Bergman war kein Filmemacher, er war ein Mann des Theaters.
Es gibt unvergessliche Bilder von ihm, das menschliche Gesicht in Großaufnahme.
Wieder falsch. Das Kino soll ja zwei Dinge erfunden haben, die Montage, dank Eisenstein, und den Blick. Aber den gab es schon bei van Eyck um 1450, schauen Sie sich nur den Genter Altar an! Das Kino wiederholt lediglich, Scorsese macht dasselbe wie Griffith, dieselbe Erzählstruktur, dieselbe Psychologie. Apropos: Freud schrieb seinen ersten Aufsatz über die weibliche Hysterie sechs Wochen, bevor die Gebrüder Lumière das Kino erfunden haben, ist das nicht interessant?
Sie sind ein großartiger Erzähler und hassen das Geschichtenerzählen. Aber ist es nicht so, dass wir Menschen Geschichten nun einmal ...
... ich weiß schon, was Sie sagen wollen. Geschichten sind Rahmen, aber das Leben kennt keinen Rahmen. Wenn ich Sie anschaue, ist meine Wahrnehmung nicht gerahmt, ich wende meinen Kopf, meine Augen bewegen sich unaufhörlich. In der Natur gibt es weder Rahmen noch Geschichten. Sie sind ein Ergebnis unserer Faulheit, eine Konstruktion, um einfacher miteinander reden zu können.
Wir sollen unsere natürliche Sehnsucht nach Geschichten überwinden?
Dass es immer uns Narrative geht, ist kein Naturgesetz, sondern eine Übereinkunft der letzten 3000 Jahre. Als die Fotografie erfunden wurde, sagten alle, das ist das Ende der Malerei. Dabei war es der Beginn der Malerei, ihre Befreiung vom Darstellungszwang. Narrativität ist Mist! Das Kino sollte aufhören, ein Sklave der Story zu sein.
Rembrandt malte figürlich, seine Bilder sind nicht Mist.
Sagen wir, er war ein Vorläufer des Befreiungsakts, der später stattfand, dank Eisenstein, Griffith oder Salvador Dalí. Das Leben kann man nie von vorne beginnen, ebenso wenig kann die Kunst von vorne beginnen. Warum werden Leute Architekten? Oder Filmemacher? Weil sie Architektur sehen oder Filme und sagen, das will ich auch machen. Kunst reagiert immer auf Kunst, nicht auf das Leben.
Vor 25 Jahren waren Sie ein Pionier des digitalen Kinos. Hat die Digitalisierung die Bilder tatsächlich revolutioniert?
John Cage sagte einmal, wer eine Technik um mehr als 20 Prozent erneuert, verliert 80 Prozent seines Publikums. Wir Menschen lernen sehr langsam. Das breite Publikum ist inzwischen beim Post-Impressionismus angekommen, aber noch nicht beim Kubismus, genauso beharrt es auf der Tonalität in der Musik. Es ist auch nicht leicht mit der Abstraktion: Bei meinen Eisenstein-Recherchen habe ich mir angeschaut, was die Avantgardefilmer bei ihrem Treffen 1929 in der Schweiz diskutierten, Filme von Hans Richter oder das Triadische Ballett. Sieht aus wie animierter Malewitsch, schrecklich langweilig.
Wohin sollte die Bilderrevolution führen?
Das Kino der Zukunft müsste dem Zuschauer die Kontrolle über die Zeitspanne ermöglichen, in der er die Bilder betrachtet, genau wie bei einem Gemälde. Sie sollen so viel Kontrolle haben wie ich. Das wahre Kino ist noch gar nicht erfunden. Es müsste sich an alle sieben Sinne richten, jetzt richtet es sich gerade mal an zwei.
Youtube, Streaming-Plattformen, Crowdfunding – hat das Kino sich wenigstens demokratisiert?
Mit der Kommunikation ist es immer noch nicht weit her. Sind wir in der Lage, uns besser verständlich zu machen? Sie sind Journalistin, Sie wissen, wovon ich rede. Deshalb ist Malerei so toll, auch im Kino kann man Dinge jenseits verbaler Verständigung vermitteln. Seine Magie entzieht sich der Sprache, sogar bei schlechten Produktionen. Wobei wir nicht über „Harry Potter“ oder den „Herrn der Ringe“ reden, das sind keine Filme, sondern illustrierte Texte.
Warum resignieren Sie eigentlich nicht?
Weil es mir Spaß macht, zu streiten. Provokation ist die einzige Alternative zum Status quo. Ich mache wahnsinnig gerne Filme, obwohl das Kino tot ist, gehirntot. Gerade schrieb das Hollywood-Magazin „Variety“, dass sich nur noch fünf Prozent der Zuschauer Filme im Kino anschauen, 95 Prozent sehen sie auf dem Bildschirm, dem Tablet, dem Smartphone. Das Casablanca-Syndrom, das gemeinsame Kinoerlebnis, existiert nur noch auf Filmfestivals.
Aber die Festivals boomen.
Über 5000 alleine in Europa! Trotzdem ist die Zahl der Kinogänger klein im Vergleich zur Zahl der Social-Media-Nutzer. Die jungen Leute gehen nicht mehr ins Kino, meine Urenkel werden sagen, Kino, was war das denn?
Eins Ihrer Mantras lautet, es geht immer nur um Sex und Tod, nicht nur im Kino.
Der deutsche Physiker Max Planck stellte die wunderbar einfache Frage, warum etwas ist und nicht nichts ist. Ich könnte auch sehr vulgär sagen: Wir existieren nur, um zu ficken. Oder, etwas prosaischer, wir sind da, um uns fortzupflanzen. Sie, ich, der Fotograf, wir sind nichts als Fliegen an der Wand, völlig irrelevant, es geht nur um die Kontinuität. Wir werden geboren, wir sterben, aber das Leben geht weiter.
Ein schwer erträglicher Gedanke.
Deshalb gibt es die Religion. Sie sagt, es gibt ein Leben danach. Gleichzeitig wissen wir jetzt, dass wir auf uns selbst gestellt sind. Gott ist tot, Satan ist tot, Freud ist diskreditiert, wir können nicht mal mehr unseren Müttern die Schuld geben. Wir sind selber verantwortlich, großartig! Wir sollten was draus machen.
Geschieht nicht das Gegenteil? Der Fundamentalismus ist auf dem Vormarsch.
Ist das wirklich so? Der Maler Francis Bacon wurde einmal gefragt, ob er nicht glaube, dass das Böse in der Welt zugenommen habe. Er sagt, nein, es wird nur mehr darüber berichtet als früher. Die Nachricht vom toten Baby am Strand von Lesbos verbreitet sich innerhalb von Sekunden, und die ganze Welt trauert. Aber das Wesen der Trauer ändert sich nicht. Wir können jederzeit überall zu jedem Kontakt aufnehmen, es bleibt nur noch das Sprachenproblem. Ich werde nicht lesen können, was Sie aus diesem Interview machen.
Ich übersetze nur, was Sie sagen.
Und alle Übersetzer sind Lügner!
Okay, reden wir noch mal über Sex ...
Ich sage doch, es geht immer um Sex.
Sind Ihre Protagonisten deshalb so oft nackt, nicht nur im „Eisenstein“-Film?
Während des Malerei-Studiums mussten wir dreimal pro Woche nackte Menschen zeichnen. Was ist schon dabei? Heute Morgen rief mich wieder ein Schauspieler an, der wissen wollte, ob er vor der Kamera seinen Schwanz zeigen muss und ob sich das vertraglich ausschließen lässt. Natürlich muss er ihn zeigen!
Wie reagierte man in Russland darauf, dass Sie einen nackten, schwulen Eisenstein zeigen?
Es gab Hatemails, weniger wegen der Homophobie, sondern weil ich ihren Nationalhelden nach Mexiko geschickt und ihn ihnen weggenommen habe. Andererseits hat der Film einen Verleih, es gab viele Festivaleinladungen. Europa geht politisch gerade sehr ungeschickt mit Russland um, indem es seinen Stolz kränkt. Man muss da subtiler vorgehen, machiavellistischer. Ich soll jetzt einen Dokumentarfilm über die Wolga drehen, mit Putins Segen! Ich schreibe gerade am Drehbuch, ein Anti-Putin-Script. Mal sehen, was das wird.
Das Gespräch führte Christiane Peitz.
("Eisenstein in Guanajuato", der neue Film des 73-jährigen Peter Greenaway, kommt am Donnerstag ins Kino.)
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