Schriftsteller Teju Cole im Gespräch: Das Unglück der anderen ist uns unbequem
Der nigerianisch-amerikanische Autor Teju Cole über Flucht und Migration, einen neuen Begriff von Staatsbürgerschaft und die Abschaffung des Nationalstaats.
Mr. Cole, schon Ihr Roman „Open City“ beschäftigt sich mit Fragen der Migration – allerdings eher assoziativ. Der Text-Bildband „Human Archipelago“, den Sie nun zusammen mit dem Fotografen Fazal Sheikh veröffentlicht haben, endet mit einer offenen Botschaft: „Es gibt keine Flüchtlinge, nur Mitbürger, deren Rechte anzuerkennen wir versäumt haben.“ Woher diese unerwartete Deutlichkeit?
Ja, dieses Buch ist fast ein Manifest. Der Ton ist lyrisch, und ich trage vieles zusammen: Bruchstücke von Lebensgeschichten, Gedankenfragmente, literarische Zitate, philosophische Polemiken, Reflexionen über das Wesen von Bildern und deren Herstellung. Denn dieses Buch führt nun einmal einen Dialog mit den Fotografien von Fazal Sheikh. Zugleich verlangt es nach der Abschaffung von Nationalstaaten.
„Staatsbürgerschaft hat nichts mit Nationalität zu tun“, schreiben Sie. „Und die Realität von Staatsbürgerschaft ist unabhängig von irgendwelchen Dokumenten, die von einem Staat ausgegeben oder verweigert werden.“ Kann es denn eine bedingungslose Staatsbürgerschaft geben?
Wir haben eine allzu romantische Idee von Staatsbürgerschaft, die mit formeller Anerkennung zu tun hat. Ich würde sagen, man hat sich dafür bereits qualifiziert, ohne um Erlaubnis gefragt worden zu sein. Man befindet sich immer unter einer Herrschaft und deren Restriktionen. Ein Palästinenser im Westjordanland ist gezwungen, sich mit den israelisch-palästinensischen Verhältnissen abzufinden. Er kann nicht sagen: Benjamin Netanjahu ist nicht mein Premierminister. Wenn ich also den Begriff Mitbürger verwende, meine ich, dass wir uns alle der Herrschaft eines Souveräns beugen. Warum sollen diese Mitbürger sterben, in der Wüste oder auf dem offenen Meer?
Sie fordern offene Grenzen und uneingeschränkte Bewegungsfreiheit. Moralphilosophen verbinden damit einen „starken Kosmopolitismus“. Im Gegensatz zu einem „weichen Kosmopolitismus“ begnügt er sich nicht damit, allen Menschen die gleiche Würde zuzuerkennen. Er billigt ihnen in einem materiellen Sinn zu, ihre Rechte einzuklagen. Wie können Sie nationalstaatliche Interessen so völlig ausblenden?
Denken wir an ein Schiff voller Flüchtlinge im Hafen. Ob wir sie an Land kommen lassen, ist keine Frage von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, sondern unserer menschlichen Pflichten. Arnold Schönberg oder Albert Einstein haben es auf der Flucht vor den Nazis schließlich ins amerikanische Exil geschafft – Walter Benjamin hat sich 1940 im spanischen Grenzort Portbou tödlich verzweifelt das Leben genommen. Das Argument, Menschen als Menschen zu behandeln, liegt aber nicht darin, dass der nächste Walter Benjamin an Bord sein könnte, dem wir wunderbare philosophische Werke verdanken, sondern dass wir Benjamin als Teil von etwas Menschlichem betrachten, dem wir moralisch verpflichtet sind. Schwächere Formen dieser Haltung mögen die Behauptung ermöglichen: Irgendwo müssen wir ja eine Grenze ziehen! Doch woher kommt allein die Idee dazu?
Verstehen Sie mich nicht falsch, aber gibt es neben der unmittelbaren Pflicht, in einer konkreten Krisensituation zu helfen, nicht auch ein legitimes Interesse von Regierungen, für ein funktionierendes Gemeinwesen Sorge zu tragen? Der liberale britische Philosoph David Miller trifft in seinem Buch „Fremde in unserer Mitte: Politische Philosophie der Einwanderung“ (Suhrkamp) solche Abwägungen durchaus.
Wenn das Kriterium aber das Menschsein ist, wie kann man dann Menschen ausschließen, indem man eine Linie zieht? Es gibt radikale Tierrechtler, die behaupten, dass ein Hund und ein Mensch buchstäblich dasselbe sind. Aber das ist eine philosophische Minderheit. Der Rest von uns versteht intuitiv die Kategorie des Menschlichen. Natürlich findet in der Praxis ständig eine Grenzziehung statt, die mit ethnischer Zugehörigkeit, gesellschaftlicher Schicht und Nationalität zu tun hat. Sie gerät jedoch immer wieder in Widerspruch zu unserer Idee universaler Menschenrechte.
Vom Menschlichen und seinen Pflichten kann man tatsächlich nur in dieser Allgemeinheit sprechen. Aber brauchen wir nicht unterschiedliche politische Antworten auf die Krisen an den verschiedenen Enden der Welt? Die Situation der nach Bangladesch geflohenen Rohingya erfordert andere Lösungen als die der Mexikaner, die Trump mit einer Mauer abhalten will, und sie wiederum andere als die der syrischen Flüchtlinge, die nach Deutschland gekommen sind.
Wenn Sie die Unterscheidung von Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen ansprechen – ich kann sie nicht treffen. Menschen ziehen nun einmal um. Ich habe wie Sie und jedermann ein Recht auf Freizügigkeit. Als Deutscher können Sie frei entscheiden, für zwei Jahre nach Tansania zu ziehen. Jeder, der gerne für zwei Jahre nach Deutschland ziehen würde, sollte dies dürfen. Wenn jetzt einer einwendet: Aber wer hierherkommt, will für immer bleiben! Woher will derjenige das wissen? Der Tansanier zieht es wahrscheinlich vor, in Tansania zu bleiben, weil dort seine Familie lebt und er mit der dortigen Wirklichkeit vertraut ist. Wir reden von Wirtschaftsmigration, als steckten dahinter keine ernsthaften Gründe, und wir dürften nur Krieg und Völkermord akzeptieren. Daran würden wir unsere eigenen Entscheidungen nie messen. Wenn meine Kinder hungern, sage ich nicht, der Krieg ist schuld. Ich sage: Lass uns weggehen.
Können wir in diesem Zusammenhang überhaupt noch von individuellen Entscheidungen reden?
Natürlich nicht. Der Jemen ist am Rand einer katastrophalen Hungersnot. Der Klimawandel hat Hunderttausende aus der Tschadsee-Region vertrieben, aus dem Norden Nigerias und Niger quer durch die Sahara nach Burkina Faso und Mali. Da, wo Menschen leben, fragen sie sich: Kann ich mein Land bewirtschaften? Kann ich mein Wasser aus diesem Fluss beziehen oder aus jenem, der jetzt verseucht ist? Wird der steigende Meeresspiegel mein Fischerdorf überfluten? Selbst wenn der Betreffende nicht den Grund im Klimawandel sieht oder im Freihandelsabkommen NAFTA, wird er merken, dass er sein Getreide nicht mehr verkaufen kann. Die Grundfrage ist: Was gibt uns das Recht, von einem globalen Warensystem zu profitieren, zu dem diese Menschen ebenso viel beigetragen haben wie wir? Wir leben nicht auf einer glücklichen Insel mit eigenem Wohlstand, der niemandem schadet.
Die Vereinten Nationen geben die Zahl der weltweit Zwangsvertriebenen mit der derzeitigen Rekordzahl von 68,5 Millionen Menschen an. Da ist es nicht völlig abwegig, sich über Verteilungsschlüssel auszutauschen.
Wenn eine Party mit 300 Gästen stattfindet, und ein weiterer kommt dazu, sagt niemand: Wir sind schon mehr als genug. Aber wenn man in den USA über 300 Millionen Leute hat und eine Million Migranten dazustößt, heißt es: Oh, wir sind voll. Aber wir sind nur egoistisch. Auf diesem Planeten leben derzeit sieben Milliarden Menschen, und wir haben aufgrund moderner landwirtschaftlicher und medizinischer Technologien Ressourcen für alle. Dennoch hungern viele, weil es mit der Verteilung nicht klappt oder sich einzelne in ihrer Gier bereichern.
Eine UN-Studie erwartet für den Beginn des nächsten Jahrhunderts bis zu zwölf Milliarden Menschen.
Das ist kein Malthusianischer Alptraum. Der Planet ist groß. Wir müssen uns aber diszipliniert verhalten. Und Deutschland mit seinen 80 Millionen Einwohnern verträgt vielleicht 120 Millionen. An unseren privilegierten westlichen Orten sprechen wir viel über diese Dinge und sagen dann: Komm, lass uns realistisch bleiben. Ich will wissen, was diesen unhinterfragten Realismus begründet, der sich auf die Angst reduzieren lässt, dass geltende Arrangements in Frage gestellt werden. Die Welt ging von den Flüchtlingen, die in den letzten Jahren nach Deutschland kamen, nicht zugrunde. Das gleiche gilt für Frankreich. Wenn eine weitere Million käme, würde das Land noch immer nicht zugrunde gehen, sondern eine Million Leben würden gerettet.
Das Wort von der Flüchtlingskrise ist Ihnen suspekt.
Ja, weil diese Krise nicht die Deutschen oder die Franzosen betrifft, sondern diejenigen, die ihre Heimat verlassen mussten. Man kann nicht jemandes großes Unglück in sein eigenes verwandeln. Wenn ein Obdachloser von der anderen Seite der Straße auf mich zukommt und mich anbettelt, ist das ein Unglück für ihn. Für uns ist es nur unbequem. Es geht dabei auch um die Verantwortung in einer postkolonialen Welt. Die Ablehnung, sich mit der anhaltenden Wirkung von historischen Schichten auseinanderzusetzen, manifestiert sich in dem, was wir Populismus nennen: Bitte macht mich nicht für das verantwortlich, wofür ich verantwortlich bin – das ist in meinen Augen sein Credo.
An die Seite Ihrer Überlegungen treten Fazal Sheihks Bilder, die sie mit den Worten kommentieren: „Im Angesicht von alledem – in der Gegenwart dieser Gesichter – braucht es da noch Worte?“ Sie appellieren damit an eine moralische Intuition, ohne die Menschen nicht auskommen. Doch sind Argumente, die an eine solche Evidenz appellieren, nicht auch erschreckend schwach, weil sich letztlich jeder auf sie berufen kann?
Darin bestand der Kampf beim Schreiben: etwas in Worte zu kleiden, das so groß ist. Ich habe mich manchmal dafür geschämt, weil ich mir sagte: Ich schreibe aus dem Inneren des Desasters. Bitte vergebt mir, mich so direkt zu äußern. Beim Schreiben von „Open City“, wo ich mich indirekt durch meinen Protagonisten äußern konnte, war das anders. Das Buch lebt also von dem Paradox: Ja, wir brauchen Wörter, aber nicht zu viele. Die Dinge verstehen sich nicht von selbst. Menschen müssen Zeugnis ablegen. So, wie es Olivier Messiaen mit seinem in einem Görlitzer Kriegsgefangenenlager entstandenen „Quatuor pour la fin du temps“ tat, so wie Paul Celan seine Gedichte schrieb, so wie Samuel Beckett und Simone Weil lebten. Das Eigentum am Menschlichen ist kollektiv, es ist aber auch im Einzelnen verankert. Man handelt nicht, um ein bestimmtes Ergebnis zu erzielen, man handelt, wie Hannah Arendt sagte, um mit sich selbst im Reinen zu sein. Also macht man den Mund auf und vertritt womöglich eine naive, unpopuläre oder praxisferne Position.
Sie setzen auf ästhetische Strategien, um politische Einsichten zu erzeugen. An einer Stelle heißt es: „Eine Funktion von Bildern ist es, das Gewöhnliche von Neuem zu verzaubern.“ Und an einer anderen: „Die Fotografie eines Gesichts ist eine Fotografie, kein Gesicht.“ Ist das erste nicht ein Satz über die Stärken von Kunst, während der zweite von ihren Schwächen handelt?
Im ersten Fall geht es um die Objekthaftigkeit einer Fotografie, um den Kontext, in dem sie entstanden ist, wer sie gemacht hat und wo sie veröffentlicht worden ist. Etwas daran konserviert aber auch einen Augenblick, der etwas Wahres über ein Leben aussagt, ein Moment, der sonst nicht festgehalten worden wäre. Wenn das Bild stark ist, kann es eine illuminierende Wirkung haben. Ich war gerade in der Berliner Gemäldegalerie, in der Mantegna-Bellini-Ausstellung, und habe mehrere Stunden mit diesen Bildern aus dem 15. Jahrhundert verbracht. Am Abend war ich dann in einem äthiopischen Restaurant. Am Nachbartisch wurde ein vielleicht sechs Monate altes Baby hochgehalten, und zwar genau so wie auf der „Darbringung im Tempel“, die erst Andrea Mantegna und 20 Jahre später Giovanni Bellini malten. Das Gewöhnliche war für mich verzaubert, weil es mich an die ungewöhnliche Zartheit erinnerte, mit der zwei bedeutende Künstler einst die Nähe von Mutter und Kind festhielten. Bilder können einen an etwas erinnern. Sie können nicht immer den Lauf der Geschichte ändern, aber sie können die Wege deines Herzens in einem bestimmten Moment ändern. Und wer könnte in einer Zeit wie der heutigen Nein zu solchen Tröstungen sagen.